Experten-Interviews

Dezember 2019/Januar 2020

Sozialversicherungen: «Die Beschäftigung älterer Arbeitnehmender ist an sich schon ein Benefit»

Sozialversicherungen, insbesondere die AHV, sind ein vieldiskutiertes Thema. Wie kann diese wichtige Institution auch in Zukunft funktionieren? Wir haben mit Jürg Brechbühl, dem Direktor des Bundesamts für Sozialversicherungen, über aktuelle Probleme sowie dringend benötigte Reformen bei den Sozialversicherungen gesprochen. Dabei ging es auch um die Beschäftigung älterer Arbeitnehmender.

Von: Dave Husi   Teilen  

Dave Husi

Dave Husi ist Chefredaktor von personalSCHWEIZ.
Zuvor hat er bei einem Medien-Startup Gründerluft geschnuppert und war bei einem Fachverlag im Medizinbereich journalistisch tätig.

Sozialversicherungen

Herr Brechbühl, als Direktor des Bundesamts für Sozialversicherungen kommen Sie mit den unterschiedlichsten Aspekten dieses Gebiets in Kontakt. Was mögen Sie am meisten an Ihrer Aufgabe?
Ich mag die Arbeit in einem politischen Umfeld, in welchem verschiedene Interessen aufeinandertreffen. Die Analysen der verschiedenen Akteure zu den Problemen liegen gar nicht so weit auseinander, die Lösungsvorschläge aber sehr wohl. Es ist eine faszinierende Herausforderung, in diesem Spannungsfeld an der Entscheidfindung mitzuwirken. Und erst noch in einem Politikbereich, in dem das Wohl der Menschen im Mittelpunkt steht. Das BSV stellt dem Departement, dem Bundesrat und dem Parlament die notwendigen Unterlagen zur Verfügung. Das ist Teamarbeit, und für mich ist die Zusammenarbeit mit Menschen, die einen unterschiedlichen fachlichen Hintergrund haben, immer wieder ein sehr bereicherndes Erlebnis.

Die Sozialversicherungen sind immer wieder Veränderungen unterworfen. Welche Entwicklungen sind mittel- und langfristig bei den Schweizer Sozialversicherungen zu erwarten?
Die Sozialversicherungen müssen drei grosse Herausforderungen bewältigen: die demografische Entwicklung, das Tiefzinsumfeld mit Negativzinsen und die Digitalisierung. Zu den Auswirkungen der Digitalisierung wissen wir noch zu wenig. Wir sind daran, diese zu analysieren. Sicher müssen wir aber dafür sorgen, dass auch Menschen, die in neuen Arbeitsformen beschäftigt sind, wie z.B. Plattformarbeitende, ausreichend abgesichert sind. Bei der demografischen Entwicklung und den Negativzinsen wird es darum gehen, das Leistungsniveau zu erhalten. Auch wenn es mit der laufenden Reform gelingt, das Referenzalter der Frauen auf dasjenige der Männer anzuheben, werden wir nicht um weitere Massnahmen herumkommen. Wir müssen den Menschen Anreize geben, länger zu arbeiten, und die Unternehmen dazu bringen, die älteren Arbeitnehmenden auch zu beschäftigen. Wir werden aber auch nicht darum herumkommen, zusätzliche finanzielle Mittel in die Altersvorsorge zu investieren.

Welche Herausforderungen ergeben sich dadurch für Arbeitgeber und das HR?
Sollen ältere Personen länger arbeiten, so muss es einerseits für diese Personen Stellen geben. Andererseits müssen die Arbeitnehmenden arbeitsmarkt fähig bleiben. Gefragt sind Stellen, die Bogenkarrieren oder einen gleitenden Übergang von der Arbeit in den Ruhestand ermöglichen. Das HR steht vor der Herausforderung, sowohl den Arbeitgebern als auch den Arbeitnehmern klarzumachen, dass man nie zu alt ist, um sich beruflich weiterzubilden.

Welche «Baustellen» gibt es aktuell bei den Sozialversicherungen?
Wir haben einen massiven Reformstau in der Altersvorsorge. In der AHV ist es mittlerweile mehr als 20 Jahre her, dass die letzte Reform mit strukturellen Massnahmen gelungen ist. Nach der Ablehnung der Altersvorsorge 2020 hat der Bundesrat im August eine Botschaft für die Stabilisierung der AHV verabschiedet, die von der Ständeratskommission im ersten Quartal des nächsten Jahres behandelt wird. Diese Reform, die AHV 21, bringt im Wesentlichen ein Referenzalter 65 für Frauen und Männer mit einer Übergangsregelung für die betroffenen Frauen, eine Verbesserung des flexiblen Rentenalters und eine Erhöhung der Mehrwertsteuer um 0,7 Prozentpunkte. Diese Reform muss gelingen. Die zweite Grossbaustelle ist die berufliche Vorsorge. Auch dort konnte vor rund 15 Jahren die letzte Reform in Kraft gesetzt werden. Der Umwandlungssatz ist zu hoch, was für die Personen vor allem in der Altersgruppe zwischen 40 und 50 Jahren gravierende Folgen hat. Über 6 Milliarden Franken werden in der beruflichen Vorsorge jedes Jahr von den Aktiven zuden Rentnerinnen und Rentnern umgeleitet. Das ist eigentlich ein Skandal. Die Arbeitnehmerorganisationen Schweizerischer Gewerkschaftsbund und Travail Suisse haben mit dem Schweizerischen Arbeitgeberverband einen Kompromiss erarbeitet. Der Bundesrat wird dazu in nächster Zeit ein Vernehmlassungsverfahren eröffnen. Ich hoffe, dass mit diesem Vorschlag der gordische Knoten in der beruflichen Vorsorge zerschlagen werden kann.

«Über 6 Milliarden Franken werden in der beruflichen Vorsorge jedes Jahr von den Aktiven zu den Rentnerinnen und Rentnern umgeleitet. Das ist eigentlich ein Skandal.»

Die AHV-Problematik ist ein Dauerbrenner. Die kurzfristige Finanzierung ist zwar gesichert, doch für eine langfristige Lösung bräuchte es umfassende Reformen. Was müsste sich aus Ihrer Sicht in Zukunft ändern?
Ich habe gelernt, dass die Reform der Altersvorsorge wie eine Bergwanderung ist. Man muss Schritt für Schritt vorwärtsgehen und immer einen soliden Stand haben. Es bringt nichts, zu einem grossen Sprung anzusetzen, wenn man nicht weiss, ob man auf der anderen Seite ankommt. Die bitteren Erfahrungen der vergangenen Reformversuche zeigen, wie schwierig das ist. Das Wichtigste ist, dass es gelingt, in der Schweiz wieder einen vernünftigen Reformrhythmus hinzukriegen, der es erlaubt, rechtzeitig auf neue Entwicklungen zu reagieren und unsere Sozialversicherungen à jour zu halten.

Man sagt zwar, dass ältere Arbeitnehmende immer mehr gefragt sind – in der Realität trifft dies aber (noch) nicht zu. Woran liegt das und wird sich dies in absehbarer Zeit ändern?
Diese Frage müssten Sie den Arbeitgebern stellen. Ich weiss nur, dass die Menschen nie für eine Entwicklung beim Rentenalter zu gewinnen sein werden, wenn sie Angst vor Arbeitslosigkeit haben. Wer Angst hat, sagt «Nein». Ich glaube aber, dass die demografische Entwicklung helfen wird, das Problem undogmatisch zu lösen: Der Wirtschaft werden sehr viele Fachkräfte verloren gehen, die nicht mehr durch Immigration ersetzt werden können. Das wird dafür sorgen, dass ältere Arbeitnehmende auf dem Arbeitsmarkt gefragt sein werden.

In Branchen mit zunehmendem Fachkräftemangel wird sich dieses Problem von selbst lösen. Welche Benefits könnten Unternehmen aus Branchen ohne Fachkräftemangel erhalten, damit sie wieder mehr ältere Arbeitnehmende beschäftigen?
Die Beschäftigung älterer Arbeitnehmender ist für sich genommen schon ein Benefit. Ich sehe das auch bei uns im Bundesamt. Es sind häufig gut motivierte Leute mit einem grossen Engagement, die sehr gerne bereit sind, ihr Wissen und ihre Erfahrung einzusetzen und an jüngere Mitarbeitende weiterzugeben.

Dies ist eine gekürzte Fassung des Interviews. Lesen Sie das ganze Gespräch in der aktuellen Printausgabe.

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