Experten-Interviews

April 2019

Mentale Stärke: «Es ist wichtig, Stress nicht als etwas Negatives zu sehen»

Nationalspieler, Fussballkommentator, Stresscoach oder Sportchef: Alain Sutter hat in seinem Leben schon vieles gemacht. Wir haben mit dem Berner über richtiges Stressmanagement und über seine Sensibilität gesprochen.

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Mentale Stärke

Sie haben vor einigen Jahren ein Buch darüber geschrieben, wie man stressfrei glücklich wird. Kurz und knapp: Was ist Ihr Heilmittel gegen Stress?
Immer versuchen, aus allem das Beste zu machen.

Also versuchen, alles positiv zu sehen?
Nein, überhaupt nicht. Das hat nichts mit Positivität zu tun. Es geht lediglich darum, aus jeder Situation das Beste zu machen.

Machen Sie regelmässig Übungen, um zu entspannen oder das Gedankenkreisen im Kopf zu stoppen?
Ich mache keine speziellen Übungen. Was aber immer hilft, ist atmen. Unter Stress vergessen viele Menschen, richtig zu atmen.

In Ihrer Praxis coachen Sie Menschen im Umgang mit Stress. Welches ist der häufigste Grund für Stress und was raten Sie?
Raten tue ich niemandem etwas. Ich bin zu wenig schlau, um anderen Menschen Ratschläge zu geben. Ich bin froh, wenn ich weiss, was gut für mich ist.

Aber gibt es Stressoren – also Muster, Themen oder Situationen –, die Sie überdurchschnittlich häufig identifizieren?
Das kann ich so nicht sagen. Die Ursachen für Stress sind immer sehr individuell. Stress ist kein unbestimmter, sondern im Gegenteil ein bestimmter Zustand, der sich anhand von medizinischen Verfahren gezielt messen lässt. In meiner Praxis verwende ich dafür ein HRV-Gerät. Dieses Gerät misst und analysiert die Herzraten­variabilität. Die Methode leitet sich aus dem EKG ab und findet im Stressmanagement und im Leistungssport häufige Anwendung. Meine Patienten müssen das Gerät während 24 Stunden auf sich tragen und in einem Protokoll ihre täglichen Aktivitäten festhalten. Anhand ihrer Herzratenvariabilität mache ich mit den Klienten eine Auswertung, die individuell auf sie abgestimmt ist. Eines der Ziele ist es, das Risiko eines Burn-outs zu minimieren. Genau wie die Ursache für Stress sind auch die Massnahmen zur Stressreduk­tion sehr individuell. Jeder ist anders.

In Ihren Referaten warnen Sie vor den negativen Auswirkungen von Stress auf die Gesundheit, vor allem auf das Immunsystem. Können Sie den Mechanismus und die Risiken genauer ausführen?
Stress ist ein Notfallprogramm des Körpers, eine Überlebenshilfe für aussergewöhnliche Situationen. Dieser Zustand braucht sehr viele Ressourcen und Energie. Und wenn das Notfallprogramm zum Normalprogramm wird, laugt das den Körper aus. Es ist einfach nicht gesund, wenn wir gestresst sind und uns aufregen.

Wie gingen Sie in Ihrer Zeit als Fussballprofi mit Druck und Stress um?
Ganz unterschiedlich, je nach Tagesform, würde ich sagen. Die Frage impliziert, dass Druck und Stress von aussen kommen. Aber das stimmt nicht. Druck und Stress machst du dir nur selber, und dies gilt es sich als Erstes bewusst zu machen. Es geht immer nur um die eigene Sichtweise, wie ich mit Dingen umgehe und diese anschaue.

«Stress ist ein Notfallprogramm des Körpers, eine Überlebenshilfe für aussergewöhnliche Situationen. Dieser Zustand braucht sehr viele Ressourcen und Energie.»

Aber wenn der Trainer von einem verlangt, das Spiel umzustellen und beispielsweise mehr zu laufen, dann kommt der Druck ja schon von aussen und nicht von sich selber?
Das ist doch kein Druck. Das ist nur ein Hinweis des Trainers, eine Anforderung, die er an einen stellt. Wenn du dann auf dem Platz stehst und nur noch denkst: «Ich muss, ich muss», dann machst du dir den Stress selbst, weil du dich unter Druck setzt.

Haben Sie nie darüber nachgedacht, dass, wenn Sie das Spielsystem nicht gemäss den Vorgaben des Trainers umsetzen können, Sie möglicherweise nach drei, vier Spielen nicht mehr spielen?
Ich habe nie darüber nachgedacht, was eventuell passieren könnte, wenn ich die Vorgaben des Trainers vielleicht nicht umsetzen kann. All diese Gedankenspiele mit Eventualitäten und Konjunktiven – da macht man sich nur unnötig Sorgen. Druck kommt über das sich Sorgen machen, was sein könnte, und nicht über das, was tatsächlich ist. Das ist für mich die Bestätigung, dass Druck immer von innen kommt und mit der eigenen Einstellung, mit der eigenen Sichtweise zu tun hat.

Gibt es für Sie so etwas wie positiven Stress? Hat Sie Druck – also auch solcher, den Sie sich selber gemacht haben – eher beflügelt oder gehemmt?
Es gibt den Eustress, also den positiven Stress mit positiven Auswirkungen, der aus der Haltung «Ich darf» entsteht, und es gibt den Distress, also den negativen Stress mit negativen Auswirkungen, der aus der Haltung «Ich muss» entsteht. Wenn man den Stressmechanismus kennt und weiss, für was er im Körper da ist, dann ist Stress an sich nichts Negatives. Um zu überleben, stellt der Körper alle Ressourcen zur Verfügung, um aussergewöhnliche Leistungen zu erbringen. Gerade bei Sportlern ist diese Stresssituation für den Körper also etwas sehr Positives. Denn durch diesen Mechanismus können sie unglaubliche Leistungen erbringen. Und nochmals: Das Problem dieses Mechanismus ist nur, wenn er zum Normalprogramm wird. Wenn Stress einmal oder zweimal in der Woche ein solches Ausmass annimmt, ist das kein Problem. Für das ist der Körper gemacht. Daher ist es wichtig, Stress gar nicht als etwas Negatives, als etwas Schlechtes anzusehen. Es ist nur ein evolutionärer Schutzmechanismus des Körpers, um zu überleben.

Sie galten als sensibler Spielertyp, der Vertrauen brauchte, um zu funktio­nieren. Haben Sie das Gefühl, Ihr Charakter ist Ihnen in Ihrer Karriere als Profisportler manchmal im Weg gestanden?
Wer hat Ihnen denn das erzählt (lacht)? Nein, es stimmt schon. Ich bin ein sehr sensibler Mensch. Nicht ein sensibler Spieler, sondern ein sensibler Mensch. Sensibilität wird aber häufig falsch verstanden. Sensibilität bedeutet, dass man viel wahrnimmt. Das hat mir geholfen, auf dem Platz sehr kreativ zu sein, weil ich Sachen wahrgenommen habe, die andere eben nicht wahrgenommen haben. Meine besten Leistungen habe ich gezeigt, wenn ich diese Sensibilität genützt habe, um Dinge auf dem Platz zu machen, die für den Gegner überraschend waren. Das war ein Geschenk und war nur gut. Aber mit Vertrauen hat das überhaupt nichts zu tun. Vertrauen habe ich nicht vom Trainer gebraucht, sondern von mir selber. Ich musste mir selber vertrauen. Es nützte nichts, wenn mir der Trainer Vertrauen schenkte – er konnte es mir ja gar nicht schenken. Vertrauen musst du selber haben, in dir drin.

«Druck kommt über das sich Sorgen machen, was sein könnte, und nicht über das, was tatsächlich ist. Das ist für mich die Bestätigung, dass Druck immer von innen kommt und mit der eigenen Einstellung, mit der eigenen Sichtweise zu tun hat.»

Sie haben das Vertrauen also nie von aussen gebraucht?
Es kommt alles aus dir selber. Das habe ich relativ schnell begriffen.

Hatten Sie ein bestimmtes Erlebnis, um das zu begreifen?
Nein. Das sind Entwicklungsprozesse, die man durchläuft, die aus Erfahrungen und den Rückschlüssen, die man daraus zieht, entstehen. Meistens trifft einen nicht der Blitz.

Einige Spieler trainieren mit 17, 18 oder 19 Jahren mit der ersten Mannschaft mit, Breel Embolo debütierte als 17-Jähriger in der Super League. Ist man in dem Alter überhaupt schon fähig, mit dem Druck umzugehen, welchen der Leistungssport mit sich bringt?
Das kann ich nicht pauschal beantworten. Mit Druck umzugehen, hat für mich wenig mit dem Alter zu tun. Ich kenne Profis, die auch im hohen Alter nicht damit umgehen können. Aber klar ist man als 18-Jähriger in der Entwicklung an einem anderen Punkt als ein älterer Spieler.

Warum schaffen viele Nachwuchsspieler den Sprung zum Profi nicht? Sind es die fussballerischen Fähigkeiten oder ist es doch eher der Kopf?
Man kann das eine nicht vom anderen trennen: jeder Spieler ist immer ein Gesamtpaket. Am Ende entscheidet die Qualität – die beste Qualität setzt sich durch. Und Qualität ist immer die Summe des Ganzen. Es ist auch logisch, dass es mehr Nachwuchsspieler nicht schaffen als schaffen. Wenn es mehr schaffen würden als nicht – so viele Plätze im Profifussball gibt es gar nicht. Es gibt nur eine kleine Anzahl von Spielern, die gebraucht werden.

Haben Sie das Gefühl, dass viele Nachwuchsspieler auf der Strecke bleiben, weil sie mental noch nicht bereit für das Profigeschäft sind?
Es ist unsere Aufgabe, jedes Jahr zu selektieren: Einige Spieler schaffen den Sprung in die nächste Stufe, für andere Spieler reicht es nicht. Diese Selektionen sind aber immer Momentaufnahmen. Es gibt immer wieder Beispiele, dass ein 17-Jähriger aussortiert wird, der dann später doch noch den Sprung zum Profi schafft. Auch hier gilt: Wenn du gut genug bist und die Qualität besitzt, kannst du aus diesem Nachwuchszyklus ausscheiden und kommst auf einem anderen Weg wieder rein.

Bild: Urs Bucher

Dies ist eine gekürzte Fassung des Interviews. Lesen Sie im vollständigen Interview in der aktuellen Printausgabe, was der Sportchef des FC St. Gallen über den Einsatz von Big Data bei der Spielersuche denkt.

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