Experten-Interviews

Dezember 2022/Januar 2023

Lohn & Sozialversicherungen: «Das Problem wurde mit dem ‹Ja› nicht gelöst»

Der langjährige Reformstau bei der AHV scheint vorerst überwunden. Doch es braucht in der 1. wie auch in der 2. Säule weitere Anpassungen, damit Versicherte auch zukünftig eine existenzsichernde Rente erhalten. Dies wird in kleinen Schritten passieren, davon ist Dr. Martina Filippo überzeugt. Wir sprechen mit der Sozialversicherungsexpertin über mehrheitsfähige Lösungen, die Zukunft der Altersvorsorge und die problematische Querfinanzierung mittels Mehrwertsteuererhöhung.

Von: Dave Husi   Teilen  

Dave Husi

Dave Husi ist Chefredaktor von personalSCHWEIZ.
Zuvor hat er bei einem Medien-Startup Gründerluft geschnuppert und war bei einem Fachverlag im Medizinbereich journalistisch tätig.

Lohn & Sozialversicherungen

Frau Filippo, Sie lehren und forschen am Zentrum für Sozialrecht an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Winterthur. Welches Thema treibt Sie aktuell am meistenum?
In letzter Zeit habe ich mich sehr viel mit den Rechten von Menschen mit Behinderungen befasst. Anfangs Jahr erscheint der Kommentar zur UNO-Behindertenrechtskonvention, an welchem ich als Herausgeberin und Autorin mitgearbeitet habe. Auch bin ich Teil eines Projektteams, welches zu Fahrdiensten für Menschen mit Behinderungen forscht. In Bezug auf Menschen mit Behinderungen gibt es in der Schweiz zahlreiche Baustellen. Eben erst im Frühjahr wurde die Schweiz vom UN-BRK-Ausschuss kritisiert – meiner Meinung nach zu Recht. Der Ausschuss hat über 80 Empfehlungen formuliert, wie die Schweiz die Umsetzung der Rechte der UNO-Behindertenrechtskonvention verbessern kann. Eine weitere grosse Baustelle ist die Finanzierung von Pflege und Betreuung. Das Thema wird aufgrund der Überalterung der Schweizer Bevölkerung immer dringender. Dazu wird man in den nächsten Jahren sicher einiges hören.

Als Sozialversicherungsexpertin haben Sie bestimmt bei der Abstimmung zur AHV-Revision Ende September mitgefiebert. Sind Sie mit dem Abstimmungsresultat zufrieden?
Ich verstehe bzw. verstand die Argumente beider Lager gut und fand sie auch nachvollziehbar. Ich selbst war sehr unentschlossen, wie ich abstimmen sollte. Ich verstehe das Hauptargumente der Gegnerinnen und Gegner im Hinblick darauf, dass die Reform auf dem Buckel der Frauen ausgetragen wird. Jedoch sehe ich das Problem der Benachteiligung der Renten bei den Frauen vielmehr in der 2. Säule. Hier muss unbedingt etwas getan werden, und es ist zu hoffen, dass bei der BVG-Reform die Frauen und ihre spezielle Situation genügend berücksichtigt werden.

Wie ordnen Sie das Resultat ein, und was bedeutet dies für die Zukunft der AHV?
Das Ziel der Reform waren die Sicherung der Finanzen der AHV und die Haltung des Niveaus der Rentenleistungen für die nächsten zehn Jahre. Das BSV rechnete mit der bisherigen geltenden Ordnung, dass die AHV ab ca. 2029 defizitär wird, mit der AHV 21 ab ca. 2031. Diese auf zehn Jahre angelegte Stabilisierung der AHV schiebt das erwartete Defizit um lediglich zwei Jahre heraus, sollte die vom BSV angenommene Prognose tatsächlich so eintreffen. Das heisst, das Problem wurde mit dem Ja an der Urne nicht gelöst, sondern lediglich für sehr kurze Zeit aufgeschoben. Ich nenne das etwas spitz formuliert «Pflästerlipolitik». Eigentlich bräuchte es tiefergreifende Reformen, um die AHV längerfristig zu stabilisieren. Das Resultat bringt also lediglich einen kurzen Aufschub, bis wir wieder vor demselben Problem stehen.

Denken Sie, dass die Annahme der jüngsten AHV-Initiative den «Knoten» in der Leitung gelöst hat und dass auch in nächster Zeit Reformen an der Urne eine Chance haben werden?
Kaum. Erfahrungsgemäss haben grössere Reformen im Bereich der Sozialversicherungen immer einen schwierigen Stand an der Urne. Ich denke nicht, dass sich das gross ändern wird. Auch sind die Älteren nicht gewillt, Zugeständnisse zu machen; ich höre immer wieder, sie hätten ja selbst schon so viel eingezahlt und jetzt halt auch einen Anspruch darauf. Es bleibt zu hoffen, dass die Jüngeren die Problematik erkennen, doch meist ist für sie das Thema Rente einfach zu weit weg. Und wenn wir ehrlich sind: Es ist halt einfach eine trockene und abstrakte Materie.

Wenn Sie eine Prognose abgeben müssten: Wie geht es mit der AHV in den nächsten 5 bis 10 Jahren weiter?
Diese Frage ist schwierig zu beantworten. Mir kommt meine Mutter in den Sinn, die über 70 Jahre alt ist und zu sagen pflegt, dass sie schon ihr ganzes Leben lang höre, die AHV stehe kurz vor dem Kollaps, was aber in der ganzen Zeit noch nie eingetroffen sei. Ich denke, man fährt so weiter wie bisher: immer wieder kleine Reformen, die ein paar weitere Jahre einen Aufschub gewähren, bis zur nächsten kleinen Reform.

Wird es diese Institution der Schweizer Sozialversicherungen auch noch in 30 oder 40 Jahren geben?
Ich denke schon. Wie schon gesagt, haben es grössere, umfassendere und tief ins System eingreifende Reformen in der Schweiz schwer. Andererseits ist vielleicht die jüngere Stimmbevölkerung etwas mutiger, und es könnte tatsächlich zu solchen Reformen kommen. Das System mit den drei Säulen wird meiner Meinung nach aber kaum geändert werden.

«Es ist zu hoffen, dass bei der BVG-Reform die Frauen und ihre spezielle Situation genügend berücksichtigt werden.»

Die Frauen müssen nun bis 65 arbeiten. Das Problem mit den niedrigen Renten von Arbeitnehmerinnen wird dadurch aber nicht gelöst. Wie könnte es weitergehen?
Das Problem bezüglich der niedrigen Renten der Arbeitnehmerinnen liegt meiner Meinung nach in der 2. Säule und müsste auch dort gelöst werden. Die AHV und die berufliche Vorsorge hängen ja zusammen, weshalb eine isolierte Betrachtung kaum möglich ist. Das Problem liegt aber nicht nur rein im versicherungstechnischen Bereich: Auch die bessere Vereinbarkeit von Care-Arbeit und Erwerbstätigkeit könnte hier Abhilfe verschaffen. Dabei sind einerseits die Arbeitgeber und andererseits die Männer gefordert.

Werden wir um eine weitere Erhöhung des Rentenalters für alle Arbeitnehmenden auf 67 Jahre oder älter herumkommen?
Falls es so weit kommen sollte, bräuchte es flankierende Massnahmen. Bereits jetzt haben es ältere Arbeitnehmende ab 50 schwer, bei Stellenverlust eine neue zu finden. Oft werden auch ältere Arbeitnehmende unter Vorschiebung anderer Gründe entlassen. Auch gibt es zahlreiche Berufe, bei denen es nur schon aus körperlichen Gründen schwierig ist, überhaupt bis 65 tätig zu sein. Andererseits könnte mit älteren Arbeitnehmenden der Fachkräftemangel abgefangen werden. Falls das Rentenalter 67 tatsächlich einmal zur Debatte stehen würde, müsste eine pragmatische Lösung gefunden werden. Mit dem ÜLG, dem Bundesgesetz über Überbrückungsleistungen für ältere Arbeitslose, wurde ein solches Instrument geschaffen. Ob es aber in der Praxis etwas taugt, muss sich erst noch erweisen.

Was passiert, wenn weitere AHV-Reformen scheitern und das Geld für die Rentenauszahlung knapp wird?
Ich denke, dass es nicht so weit kommen wird. Irgendein Töpfchen, das man anzapfen könnte, um die Renten für die nächsten paar Jahre zu sichern, wird immer wieder gefunden werden.

Auch Revisionen der BVG scheitern oft. 2010 sagten 72% der Abstimmenden Nein zur Senkung des Umwandlungssatzes. Von einer kleineren Rente will man nichts wissen. Wie muss also eine Reform aussehen, die eine Chance auf Annahme hat?
Das ist eine sehr schwierige Frage, und ich weiss es ehrlich gesagt auch nicht. Es bleibt zu hoffen, dass die Stimmbevölkerung die Problematik erkennt. Da es bis jetzt immer irgendwie funktioniert hat, hält man am Status quo fest und möchte nicht geringere Leistungen in Kauf nehmen, obwohl das am Ende das kleinere Übel wäre.

Wenn man das Leistungsniveau halten will, muss mehr Geld zu den Pensionskassen fliessen. Wären höhere PK-Beiträge denkbar? Oder eine weitere Querfinanzierung via Mehrwertsteuererhöhung?
Ich glaube, höhere Beiträge, aber weniger Leistungen respektive gleichbleibende Leistungen würde wohl kaum auf Akzeptanz stossen. Die Mehrwertsteuer wird gerne als Mittel zum Stopfen finanzieller Löcher verwendet; in der Vergangenheit für die IV und aktuell für die AHV. Nur ist das meiner Meinung nach eben keine gute Lösung und widerspricht dem Grundsatz, dass die Finanzierung durch die Solidargemeinschaft geschieht. Problematisch bei der beruflichen Vorsorge ist zudem, dass sie eine reine Arbeitnehmerversicherung ist. Am Ende würden viele die Zeche via Mehrwertsteuer zahlen, haben aber am Ende gar keinen Anspruch auf eine BVGRente, etwa Nichterwerbstätige oder Selbstständige. Deshalb ist meiner Meinung nach eine Querfinanzierung der PK über die Mehrwertsteuer nicht realistisch.

Die bisherigen Abstufungen in der 2. Säule sollen auf 9 und 14% vereinfacht werden. Dadurch sinken bei älteren Arbeitnehmenden die PK-Beiträge, bei den Jüngeren steigen sie. Kann dies die Diskriminierung von Arbeitnehmenden 50+ reduzieren?
Arbeitnehmende werden aus vielen verschiedenen Gründen diskriminiert. Die teureren Rentenleistungen sind nur ein Faktor davon. Ich denke, in gewissen Konstellationen vermag dies durchaus einen Beitrag zur Reduktion von Altersdiskriminierung im Arbeitsleben zu leisten, ist aber sicher kein Allheilmittel.

Dies ist eine gekürzte Fassung des Interviews. Lesen Sie das ganze Gespräch in der aktuellen Printausgabe.

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