Experten-Interviews

Krankheit/Unfall: «Lieber eingliedern statt ausgliedern»

Rund 46 500 Firmen und Verbände vertrauen Helsana darin, die wirtschaftlichen Folgen von krankheits- oder unfallbedingten Absenzen abzufedern. Mit Sibylle Dornbierer, Leiterin Fachführung Leistungen Unternehmen, sprechen wir darüber, wieso die Reintegration in die Arbeitswelt eine Win-win-Situation für alle Beteiligten sein sollte.

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Kevin Hofer

 

Kevin Hofer war Chefredaktor des HR-Magazins personalSCHWEIZ.

Krankheit/Unfall

personalSCHWEIZ: Frau Dornbierer, was beschäftigt Unternehmen, HR-Verantwortliche und Vorgesetzte im Zusammenhang mit Arbeitsausfällen infolge Krankheit oder Unfall ihrer Mitarbeitenden?

Sibylle Dornbierer: Zum einen wären dies die Kurzabsenzen. Diese können im Regelfall mit einem betrieblichen Gesundheitsmanagement behandelt werden, weshalb die Versicherung meistens nicht aktiv werden muss. Zum anderen sind dies Leistungen bei Unfall. Arbeitsausfälle infolge Unfall sind für die Unternehmen fassbarer, da meistens ein klarer Fall vorliegt: Ein Arbeitnehmer hat beispielsweise einen Unfall, geht zum Arzt und erhält eine Diagnose. Danach überreicht er dem Arbeitnehmer ein Arbeitsunfähigkeitszeugnis. Der dritte Bereich betrifft das Krankentaggeld. Hier sieht sich der Arbeitgeber – manchmal mit einer Vorgeschichte von unspezifischen Beschwerden – plötzlich mit einem Arbeitsunfähigkeitszeugnis konfrontiert. Hier stellt sich für viele Firmen die Frage, wie sie mit diesem Zeugnis umgehen sollen. Ist die Arbeitsunfähigkeit ausgewiesen? Müssen wir das Zeugnis akzeptieren oder gibt es Alternativen?

Worin besteht hier die Herausforderung genau?

In diesen Fällen befinden wir uns in zwei Gebieten des Rechts: Arbeitsrecht und Versicherungsrecht. Hinzu kommt, dass mehrere Parteien involviert sind. Nebst dem Arbeitgeber und dem Krankentaggeldversicherer sind noch ein Arzt und natürlich der Arbeitnehmende beteiligt. Zwischen den Parteien bestehen Rechte und Pflichten. Es existieren unterschiedliche Möglichkeiten, eine Arbeitsunfähigkeit zu hinterfragen. Wir unterstützen Arbeitgeber, wenn die Wartefrist vorbei ist. Unsere Leistungen setzen zum Zeitpunkt des Risikotransfers ein. Im Bereich von kontrollbedürftigen Arbeitsunfähigkeiten leiten wir Zweitmeinungen ein. Der Arbeitgeber hat selbstverständlich dasselbe Recht, einen Mitarbeitenden für eine vertrauensärztliche Untersuchung aufzubieten. Attraktiv für Arbeitgeber ist, dass wir das beschriebene Vorgehen ab dem Risikotransfer für sie übernehmen. Problematisch kann das für Unternehmen werden, wenn vertraglich lange Wartefristen vereinbart wurden. Also Wartefristen von 90 bis 120 Tagen oder im Fall von gewissen Grossfirmen sogar ein Jahr. In solchen Fällen sollte die Kontrolle selber aufgegleist werden. Wir können hier Firmen unterstützen. Denn wir haben einen eigenen vertrauensärztlichen Dienst und beratende Ärzte pro Branche in den Fachrichtungen Krankheit und Unfall.

Kann man einen Arbeitnehmenden überhaupt dazu zwingen, eine vertrauensärztliche Untersuchung zu machen?

In der Regel kann der Arbeitgeber die vertrauensärztliche Untersuchung aufgrund der Treuepflicht des Arbeitnehmenden anfordern. Allerdings ist dies im Privatrecht nicht genau festgelegt. Der Vorteil einer Taggeldversicherung ist es, dass die vertrauensärztliche Untersuchung vertraglich festgelegt ist. Die versicherte Person hat klare Mitwirkungspflichten. Das gilt ebenso für die Zweituntersuchung wie für die adäquate Behandlung der Krankheit. Gerade im psychischen Bereich ist die versicherte Person ab einem gewissen Zeitpunkt verpflichtet, sich in fachärztliche Behandlung zu begeben, das heisst, wir können die Arbeitsunfähigkeit und damit die Taggeldleistungen so festlegen, als ob die adäquate Behandlung erfolgt. Zur Behandlung zwingen können wir die versicherte Person aber nicht. Wir haben aber selten solche Fälle. Meistens erachten die Betroffenen eine weiterführende Behandlung als unterstützend.

Untersuchungen finden dem Gesagten nach vor allem beim Krankentaggeld statt. Wieso weniger bei Unfall?

Der Unfall ist ein klares Ereignis, dagegen ist die Krankheit weniger offensichtlich. Der Arbeitgeber hat kein Recht, die Diagnose zu kennen. Mitarbeitende sind bei einem Unfall offener, zu sagen, was genau vorgefallen ist und welche Beschwerden sie haben. Bei Krankheit wird die Privatsphäre tendenziell stärker gewichtet. Mitarbeitende wollen eventuell nicht darüber sprechen, weshalb sie arbeitsunfähig sind. Bei Abwesenheit infolge Krankheit haben wir weit mehr Kundenrückmeldungen, die in einer Untersuchung münden. Dabei ist aber zu erwähnen, dass wir unter Umständen auch etwas ohne Kundenrückmeldung unternehmen. Wir haben selber einen Leistungsprozess und widmen uns gewissen Fällen mehr. Hierbei handelt es sich vor allem um Diagnosen, die wir im Heilungsverlauf positiv beeinflussen können – und damit die Arbeitsfähigkeit. Sie betreffen den Bewegungsapparat oder die Psyche. Aus verschiedenen Studien weiss man: Psychische Diagnosen werden häufig nicht adäquat behandelt. Hier möchten wir einen Beitrag leisten. Einerseits für die betroffene Person, denn je länger jemand aus einer Struktur fällt, desto länger dauert es, wieder in diese Struktur reinzukommen. Anderseits für den Arbeitgeber, dem eine Arbeitskraft fehlt, und zu guter Letzt auch für den Versicherer, der so im Sinne des Versichertenkollektivs zu einem effizienten Einsatz der Prämiengelder beitragen kann.

In Bezug auf die psychischen Erkrankungen, was ist hier die häufigste Diagnose?

Es existiert eine grosse Bandbreite. Depressionserkrankungen sind ein grosses Thema. Ein anderes Phänomen hat in den letzten Jahren deutlich zugenommen: Wir fassen dieses unter der Bezeichnung «Arbeitsplatzbezogene Arbeitsunfähigkeit» zusammen. In diesen Fällen führt eine Situation am Arbeitsplatz zu einer Arbeitsunfähigkeit. Grundsätzlich wäre die Person arbeitsfähig, allerdings nicht an ihrem Arbeitsplatz. Es handelt sich meistens um Konflikte im Team oder mit dem Vorgesetzten. Wenn sich diese zuspitzen, gehen die Patienten zum Hausarzt, weil sie nicht mehr mit der Situation zurechtkommen. Die Hausärzte entscheiden sich dann oft dafür, die Person aus der Situa­tion rauszunehmen, indem sie ihr ein Arztzeugnis schreiben. Für die Patienten ist es extrem schwierig, an den Arbeitsplatz zurückzukehren. Wir stellen fest, dass solche Situationen im Betrieb fast nur gelöst werden können, indem die betroffene Person umplatziert wird. Bei kleineren Unternehmen ist das aber häufig nicht möglich. Hier trifft das Sprichwort «Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende» gut zu. Eine Trennung sollte hier besser schneller erfolgen als erst nach vielen Monaten. Im Falle einer Beendigung des Arbeitsverhältnisses kommen wieder arbeitsrechtliche Bestimmungen zum Zug. Die Versicherung unterstützt hier mit dem Leistungsaussendienst: Case Manager oder ausschliesslich im Aussendienst tätige Helsana-Mitarbeitende.

Gibt es Gründe, wieso diese Problematik zunimmt?

Ich denke, es hat mit der Veränderung unserer Gesellschaft zu tun. Wir werden immer individueller und arbeiten nicht mehr 30 Jahre im selben Betrieb. Die Arbeitsbelastung oder belastende Faktoren sind grösser als früher. Die möglichen Stressfaktoren und Problemherde sind vielfältiger als noch vor einigen Jahrzehnten. Lange Arbeitsausfälle sind für Unternehmen ein grosses Risiko.

Wie lässt sich dieses minimieren?

An erster Stelle steht gesundheitsorientiertes Führen. Führungskräfte, die wertschätzend führen, reduzieren Ausfälle bereits im Vorfeld auf ein Minimum. Es ist wichtig, gesundheitliche Warnsignale, die sich über einen längeren Zeitraum kumulieren, konkret anzusprechen. Als Versicherung spüren wir von Unternehmen das Bedürfnis, bereits bei Vorliegen solcher Warnsignale und der damit einhergehenden Wahrnehmung der Fürsorgepflicht des Arbeitgebers, Unterstützung zu bekommen. Seit Kurzem bieten wir jetzt präventives Case Management (PCM) an, das noch vor einer Arbeitsunfähigkeit ansetzt. Es entlastet eine HR-Abteilung oder verantwortliche Personen, indem eine Person bereits vor der Arbeitsunfähigkeit durch einen Case Manager betreut wird. Mit dieser Unterstützung sollen eine Arbeitsunfähigkeit vermieden oder weitere Schritte konkret geplant werden. Im Moment stösst dieses Angebot vor allem bei grossen Unternehmen auf Resonanz. Der dritte Punkt setzt erst nach dem Eintreten einer Arbeitsunfähigkeit ein: Arbeitsunfähigkeiten werden wertschöpfend gesteuert, indem sie adäquat behandelt werden. Versicherungen können hier steuern helfen. Zudem fördern wir Arbeitsversuche mit verminderter Arbeitsfähigkeit, aber vollem Taggeld. Lieber eingliedern, statt ausgliedern, ist unser Ansatz. Nach Möglichkeit begleiten wir Umplatzierungen innerhalb des Unternehmens. Zuletzt koordinieren wir Massnahmen, damit Personen schneller wieder eingegliedert werden können. Das können einfache Dinge wie beispielsweise ein Stehpult sein.

Lesen Sie das komplette Interview in der Sonderausgabe «HR-Kompetenzen» von personalSCHWEIZ. personalSCHWEIZ jetzt abonnieren

Zur Person

Sibylle Dornbierer arbeitet seit Juni 2015 als Leiterin Fachführung Leistungen Unternehmen und ist seit 2005 bei Helsana. Von 2007 bis 2015 verantwortete sie als Co-Leiterin den Bereich Kundenservice für die Regionen Zürich/Zentral- und Ostschweiz mit. Zuvor war sie mehrere Jahre Teamleiterin UVG bei der Swiss-Life-Gesellschaft La Suisse, deren Krankentaggeld- und Unfallversicherungsgeschäft mit Firmenkunden 2005 an Helsana überging. Sibylle Dornbierer ist diplomierte Sozialversicherungsfachfrau mit eidg. Fachausweis und hat eine kaufmännische Grundausbildung bei Zürich Versicherungen absolviert. Sibylle Dornbierer weist rund 30 Jahre Erfahrung in der Versicherungsbranche aus.

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