Experten-Interviews

Februar 2019

Arbeitszeiterfassung: «Viele Arbeitsverträge sind im Hinblick auf die Mehrarbeit mangelhaft»

Die Arbeitszeiterfassung ist zuweilen eine Wissenschaft für sich. Vor allem die Unterscheidung zwischen Überstunden und Überzeit wird in der Praxis häufig nicht richtig verstanden, sagt die Arbeitsrechtlerin Astrid Lienhart im Gespräch.

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Arbeitszeiterfassung

Die wichtigste Frage ganz am Anfang: Muss die Arbeitszeit immer erfasst werden?
Nein, es gibt viele Ausnahmen. Die Regelungen befinden sich im Arbeitsgesetz, welches bisweilen ein Buch mit sieben Siegeln ist. Wenn Sie daraus also nicht sofort schlau werden, liegt das vermutlich nicht unbedingt an Ihnen.

Welches sind denn die wichtigsten Ausnahmen?
Die Anwendbarkeit des Arbeitsgesetzes kann aus betrieblichen oder aus persönlichen Gründen in einigen Ausnahmefällen nicht gegeben sein. Die bekanntesten sind zum Beispiel Handelsreisende oder Aussendienstler, also Mitarbeitende, welche einen Grossteil ihrer Arbeitszeit nicht am Sitz des Arbeitgebers, sondern unterwegs von Kunde zu Kunde verbringen. Reinigungspersonen, die in privaten Haushalten arbeiten, müssen Arbeitszeiten ebenfalls nicht erfassen. Darüber hinaus sind Arbeitnehmer, die eine höhere leitende Tätigkeit ausüben, von der Anwendung des Arbeitsgesetzes ausgenommen. Diese höheren leitenden Arbeitnehmer bereiten in der Praxis am meisten Kopfzerbrechen, weil sich die Definition des Arbeitsgesetzes meistens nicht mit dem Verkehrsverständnis deckt. Das Arbeitsgesetz meint damit nur die oberste Führungsliga, die Teppichetage oder neudeutsch C-Level (CEO, CFO usw.) und damit diejenigen Manager, welche über weiterreichende Entscheidungsbefugnisse verfügen oder Entscheide von grosser Tragweite fällen oder massgeblich beeinflussen und damit Struktur, Geschäftsgang oder Entwicklung eines Unternehmens nachhaltig beeinflussen können. Gewöhnliche Kader oder Direktionsmitglieder auf den mittleren Stufen oder irgendwelche Abteilungsleiter gehören definitiv nicht in diese Kategorie. Dies wird in der Praxis aber oft angenommen und sorgt insbesondere betreffend Überzeiten beziehungsweise ihre Entschädigung für rauchende Köpfe.

«Auch Direktionsmitglieder der mittleren Stufe oder Abteilungsleiter müssen ihre Arbeitszeit erfassen.»

Wer ist verantwortlich, dass die Arbeitszeit erfasst wird? Der Arbeit­geber oder der Arbeitnehmer?
Der Arbeitgeber. Er kann dies aber an die Arbeitnehmer delegieren. Gegenüber dem Arbeitsamt ist aber immer und nur der Arbeitgeber verantwortlich.

Wer muss die Einhaltung der Arbeits­zeit kontrollieren und allfällige Überstunden und Überzeit über­wachen?
Meiner Meinung nach ist das eine Managementaufgabe, welche in das Pflichtenheft eines jeden Vorgesetzten gehört.


Müssen Weisungen an den Arbeitnehmer schriftlich erlassen werden oder reicht eine mündliche Mitteilung?
Schriftlichkeit ist eine Vorsichtsmassnahme, kein Zwang. Schriftliche Weisungen lassen sich einfach besser beweisen als mündliche. Darum geht es letztendlich, jedenfalls wenn man einen Anwalt fragt. Selbstverständlich müssen Arbeitnehmer auch mündlichen Anweisungen Folge leisten. Falls nicht, haben Arbeitgeber offensichtlich ein anderes Problem.

Welches sind die zwingenden und konkreten Vorgaben seitens des ­Gesetzgebers?
Betreffend die Arbeitszeit ist erforderlich, dass die täglich und wöchentlich geleistete Arbeitszeit inklusive Ausgleichs- und Überzeitarbeit festgehalten wird und auch die Lage der Arbeitszeit, also die Anfang- und Endzeit. Zudem sind die Lage und die Dauer der Pausen von mehr als einer halben Stunde aufzuzeichnen. Sofern in einem Gesamtarbeitsvertrag vereinbart, kann auf diese Aufzeichnungen verzichtet werden, aber nur, wenn die betroffenen Arbeitnehmer ihre Arbeitszeiten mehrheitlich selbst festsetzen können und zudem einen Bruttojahreslohn von mehr als CHF 120 000.– verdienen. Zudem gibt es unter bestimmten Voraussetzungen noch die Möglichkeit der vereinfachten Arbeitszeiterfassung, bei der einzig die geleistete tägliche Arbeitszeit erfasst werden muss. Ich habe beide Modelle in der Praxis noch nie angetroffen. Doch sie sind die einzige Antwort des Gesetzgebers auf den Ruf der Wirtschaft nach mehr Flexibilität. Es scheint, man hat aneinander vorbeigeredet.

Vorbeigeredet oder der Gesetzgeber ist einfach nicht auf die Forderungen der Wirtschaft eingegangen?
Das erste. Der Gesetzgeber kann jedenfalls zurzeit nicht mehr auf die Forderungen der Wirtschaft eingehen. Das Arbeitsgesetz hat einen Schutzauftrag, der ungeachtet der Rufe nach Flexibilität und Freiheiten bei der Arbeitszeiterfassung erfüllt werden muss. Das ist keineswegs outdated, im Gegenteil. Das Schutzbedürfnis akzentuiert sich in meinen Augen von Jahr zu Jahr mehr. Ich habe Jahr für Jahr mehr Fälle, in die Arbeitnehmer mit Erschöpfungssymptomen wie Burnout oder Depressionen involviert sind. Die Arbeitsleistung, die vorher erbracht worden ist, ist bisweilen richtiggehend erschreckend. Zudem ist das Tempo in der Arbeitswelt sukzessive schneller geworden. Während man früher einen Brief innerhalb von einigen Wochen beantwortet hat, wird heute noch am gleichen Tag eine Reaktion erwartet. Die Kommunikationsmenge ist im Vergleich zu früher ebenfalls extrem angestiegen. Dank der niederschwelligen technischen Möglichkeiten greifen wir ständig in die Tasten und verschicken Nachrichten in der ganzen Welt. Müssten wir dazu jedes Mal die Sekretärin beauftragen, einen Brief auf der Schreibmaschine zu schreiben, würden wir uns das vermutlich dreimal überlegen. Dazu kommt das Problem der ständigen Erreichbarkeit durch Smartphones etc. Heutzutage ist man schon fast ein Exot, wenn man das geschäftliche E-Mail nicht auf dem privaten Smartphone installiert hat oder wenn man vor dem Einschlafen nicht noch die E-Mails checkt. Das alles verursacht Stress und kann zu Überarbeitung führen. Ein grosses Thema, auf welches Arbeitgeber reagieren müssen. Die Arbeitszeiterfassung ist dabei von zentraler Wichtigkeit, damit man überhaupt einen Überblick über den Einsatz eines Mitarbeiters hat. Auch wenn Arbeitgeber das nicht gerne hören, aber in meinen Augen ist es auch notwendig, der ständigen Erreichbarkeit gewisse Grenzen zu setzen. Dringend notwendig ist aber auch eine Auseinandersetzung mit der Frage, ob spätabendliche Ausflüge in den geschäftlichen ­E-Mail-Account Arbeitszeit darstellen und zu entschädigen sind oder nicht.

Was raten Sie als Arbeitsrechtsexpertin, sollte unbedingt beachten, damit es später nicht zu einem Rechtsstreit kommt?
Arbeitszeit zu überwachen, ist eine Managementaufgabe, die einfach wahrgenommen werden muss. Faktisch wird das aber sehr oft vernachlässigt. Dabei profitieren alle von einer sauberen Zeiterfassung: Arbeitnehmer und Arbeitgeber. Und man ist so am besten vor Überraschungen gefeit, weil man zeitnah auf allfällige Mehrarbeit reagieren kann. Zum Beispiel, indem man den Arbeitnehmer auffordert, die Mehrarbeit zu kompensieren. Ich verstehe nicht, was gegen regelmässige Zeitrapporte spricht. So gross ist dieser Aufwand wirklich nicht. Fakt ist aber, wie bereits angedeutet, dass viele sich einfach generell um das Thema drücken und auch keine optimalen Arbeitsverträge haben, um auf Mehrarbeit zu reagieren. Umgekehrt haben aber Arbeitnehmer in der Regel ein gutes Blatt in der Hand, wenn es um Mehrarbeit geht. Spätestens, wenn die Grenze zur Überzeit überschritten wird, können sie sich bei guter Beweislage ihre Ansprüche auszahlen lassen, unabhängig davon, was im Arbeitsvertrag steht. Vielleicht sollte ich kurz auf den Unterschied zwischen Überstunden und Überzeit eingehen.

Das wollte ich gerade fragen. Für viele ist das dasselbe.
Nein, das ist überhaupt nicht dasselbe, und es ist wichtig, dass diese Unterschiede verstanden werden. In einem Arbeitsvertrag wird meist eine wöchentliche Arbeitszeit vereinbart, nehmen wir an, 42 Stunden. Arbeitet ein Arbeitnehmer mehr, leistet er Überstunden. Das Arbeitsgesetz sagt, dass die wöchentlichen Höchstarbeitszeiten je nach Arbeitnehmerkategorie 45 bzw. 50 Stunden pro Woche betragen dürfen. Alles, was darüber ist, ist Überzeit. Das heisst, das Arbeitsgesetz schiebt den Überstunden quasi von oben einen Riegel. In unserem Rechenbeispiel sind also alle Stunden zwischen 42 und 45 bzw. 50 Stunden Überstunden, und alles, was über 45 bzw. 50 Stunden liegt, ist Überzeit. Sie sehen, die Überstunden können pro Woche also maximal drei beziehungsweise acht Stunden betragen. So viel zu den Definitionen. Rechtlich wirken sich diese Unterschiede ebenfalls aus. Betreffend Überstunden dürfen die Parteien im Rahmen des Arbeitsvertrages Vereinbarungen treffen. Die bekannteste ist wohl die, dass Überstunden im normalen Lohn inbegriffen seien. Solche Vereinbarungen sind zulässig. Sobald nun aber die Grenze zur Überzeit überschritten wird, übernimmt das Arbeitsgesetz das Zepter. Nun ist wichtig zu verstehen, dass das Arbeitsgesetz zwingendes Recht ist. Will heissen, die vertraglichen Vereinbarungen über die Überstunden können sich nicht auch auf die Überzeit erstrecken. Hier gilt einzig und allein das Arbeitsgesetz, welches vorsieht, dass Überzeit entweder 1:1 zu kompensieren oder mit einem Lohnzuschlag von mindestens 25 Prozent auszubezahlen ist. Es gibt dazu noch eine Ausnahme, doch das führt etwas weit im Rahmen eines solchen Interviews. Viel wichtiger ist, dass genau diese Mechanik für viele unangenehme Überraschungen sorgt, denn viele Arbeitgeber wähnen sich in Sicherheit, wenn sie in den Arbeitsverträgen regeln, dass Überstunden im Lohn inbegriffen seien. Dass sie damit die Überzeit nicht einfangen können, ist ihnen schlicht nicht bewusst. Damit verkennen sie die Wichtigkeit der Arbeitszeiterfassung auch für den Schutz ihrer Interessen. Bis die Arbeitnehmer dann ihre Ansprüche einfordern. Und, das ist noch das makabre Sahnehäubchen: Meistens liegt sehr viel mehr Überzeit als Überstunden vor. Die meisten Arbeitsverhältnisse in der Schweiz unterstehen der 45-Stunden-Regel. Das heisst, wir haben pro Woche bei unserem Beispiel drei Überstunden, während die Überzeit nach oben unbegrenzt ist. Arbeitnehmer, die wirklich viel arbeiten, leisten automatisch viel mehr Überzeit als Überstunden. Diese Ansprüche können wirklich ins Geld gehen, und ich hoffe, diese Überlegungen zeigen die Wichtigkeit des Managements von Arbeitszeiten auf. Nur wer einen Überblick über die Arbeitszeiten hat, kann effektiv vorbeugen. Mehrarbeit ist übrigens einfach ein neutraler Oberbegriff, mit dem ich die beiden Kategorien gerne zusammenfasse.

«Das Arbeitsgesetz ist zwingendes Recht: Will heissen, die vertraglichen Vereinbarungen über die Überstunden können sich nicht auch auf die Überzeit erstrecken.»

Welches sind die Konsequenzen, wenn eine Firma die Arbeitszeit nicht oder nur unvollständig erfasst?
Es gibt zwei Fronten, die Sie mit dieser Frage ansprechen. Die erste ist die privatrechtliche zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber. Arbeitgeber setzen sich hier insbesondere finanziellen Risiken aus. Denn falls Überzeit geleistet wurde, gehen die Ansprüche der Arbeitnehmer auf Entschädigung oder Kompensation nicht einfach unter, bloss weil keine Arbeitszeiterfassung gemacht wurde. Es gibt andere, zugegebenermassen zwar anspruchsvolle, Wege, die Arbeitszeiten nachzuweisen. Und so bestehen diese Ansprüche, auch wenn Arbeitgeber ihren Kopf in den Sand gesteckt haben in der irrigen Überzeugung, sie kämen um das gesamte Thema herum, wenn sie die Arbeitszeit schon gar nicht erst erfassen lies-sen. Aber das Einzige, um das sie effektiv herumkommen, ist ihr Risikomanagement. Wer weiss, dass Mehrarbeit geleistet worden ist, kann rechtzeitig darauf reagieren. Wer es nicht weiss, läuft Gefahr, überrascht zu werden, und zwar meistens zu einem Zeitpunkt nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses, zu dem Kompensation gar nicht mehr möglich ist. Es ist ein bisschen wie bei den Finanzen. Entweder man hat seine Finanzen im Griff oder sie haben einen im Griff.

Und die zweite Front?
Die zweite Front ist die öffentlich-rechtliche zwischen Arbeitgeber und Staat. Es ist, bis auf wenige Ausnahmen, die ich vorher erwähnt habe, eine gesetzliche Pflicht, die Arbeitszeiten zu erfassen. Wer dies nicht tut, verletzt das Gesetz. Die Folgen einer Arbeitgeberkontrolle durch das Arbeitsamt sind zugegebenermassen nicht wahnsinnig dramatisch, jedenfalls nicht beim ersten Verstoss. Schmerzhafter sind die privatrechtlichen Ansprüche der Arbeitnehmer.

Wo sehen Sie den grössten Handlungsbedarf bei Firmen? Mit welchen Fällen haben Sie in der Praxis am häufigsten zu tun?
Die meisten Arbeitsverträge, die ich sehe, sind stark mangelhaft, nicht nur im Hinblick auf die Mehrarbeitsproblematik. Damit wird sehr viel Potenzial vergeben. Ich rate Arbeitgebern, sich mit dem Thema aktiv auseinanderzusetzen und die Verträge neu aufsetzen zu lassen. Das Arbeitsrecht verursacht immer mehr Schwierigkeiten und ist ein substanzieller Kostenblock bei Unternehmen geworden. Wer gut aufgestellt ist, ist am besten dafür gewappnet. Dazu braucht es gute Verträge. Zudem gibt es Arbeitszeitmodelle, welche einfach zu handhaben sind, sehr viel Freiheit und Flexibilität ermöglichen und gleichzeitig die finanziellen Risiken minimieren. Dazu braucht es aber Vertragsanpassungen sowie Reglemente. Die meisten Fälle betreffen Überzeitforderungen. Namentlich die Kader und Direktoren, die zur grossen Überraschung der Arbeitgeber dann eben doch dem Arbeitsgesetz unterstehen, haben oft substanzielle Überzeitforderungen vorzuweisen, die sie bei guter Beweislage ohne Weiteres durchsetzen können.

Dies ist eine gekürzte Fassung des Interviews. Lesen Sie die vollständige Fassung in der aktuellen Printausgabe.

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