Experten-Interviews

September 2022

Arbeitssicherheit und Unfallprävention: «Das Unfallrisiko ist im Beruf um 45% gesunken»

Zwar sind die Zahlen insgesamt rückläufig, trotzdem wurden im letzten Jahr schweizweit über 200'000 Berufsunfälle gemeldet. Wie es um die Sicherheit am Arbeitsplatz steht, haben wir Beat Werder, Leiter Arbeitsbedingungen beim Amt für Wirtschaft und Arbeit (AWA) des Kantons Zürich, gefragt. Im Gespräch erklärt er, wie Betriebe ihre Mitarbeitenden für die Thematik sensibilisieren können, warum Bussen nur selten ausgesprochen werden und weshalb eine grenzenlose Arbeitszeitflexibilisierung mit dem aktuellen Arbeitsgesetz nicht möglich ist.

Von: Dave Husi   Teilen  

Dave Husi

Dave Husi ist Chefredaktor von personalSCHWEIZ.
Zuvor hat er bei einem Medien-Startup Gründerluft geschnuppert und war bei einem Fachverlag im Medizinbereich journalistisch tätig.

Arbeitssicherheit und Unfallprävention

Herr Werder, als Leiter Arbeitsbedingungen beim AWA des Kantons Zürich sind Sie unter anderem für Arbeitssicherheit und Unfallprävention verantwortlich. Wie gut halten sich die Betriebe im Allgemeinen an die Regeln?
Betriebe haben ein grosses Eigeninteresse, ihre Arbeitsabläufe sicher zu gestalten. Denn so können diese effizient ablaufen, und Ausfälle können verhindert werden. Ein Ausfall durch einen Unfall bringt nebst menschlichem Leid und dem Verlust von Know-how immer hohe Kosten mit sich.

Im Allgemeinen würde ich sagen, dass der Grossteil der Betriebe sehr bemüht ist, eine sichere Arbeitsumgebung zu gestalten. Die Herausforderungen der Branchen unterscheiden sich allerdings stark. Ein Betrieb in der chemischen Industrie hat von Grund auf andere Ansprüche als beispielsweise ein Coiffeursalon mit zwei Angestellten. Diesem Umstand gilt es bei Kontrollen Rechnung zu tragen. Es ist wichtig, abzuschätzen, was, wie viel und welcher Detaillierungsgrad vom Betrieb realistischerweise und im Sinne der Verhältnismässigkeit verlangt werden kann.

Geringfügige Mängel wie beispielsweise schlecht markierte Stolperstellen kommen relativ häufig vor. Deren Behebung wird mit dem Betrieb besprochen, und es werden Massnahmen vereinbart, die vom Betrieb innert Frist umzusetzen sind. Es gibt allerdings auch Betriebe, in welchen grössere Mängel festgestellt werden. Hier gilt es einerseits, den Betrieb zur Umsetzung geeigneter Massnahmen zur Vermeidung der Unfallgefahren zu verpflichten, andererseits zu beraten und sensibilisieren, damit eine Kultur der Sicherheit etabliert und vorgelebt wird.

Welche Themen umfasst der Begriff «Arbeitssicherheit»?
Der Begriff «Arbeitssicherheit» umfasst alle Themen, die zur Verhütung von Unfällen und Berufskrankheiten bei der Arbeit beitragen. Das Thema ist sehr umfangreich und umfasst vielerlei Aspekte wie das Arbeits- und das Unfallversicherungsgesetz. Für die Umsetzung und den Vollzug sind noch weitere gesetzliche Grundlagen wie beispielsweise das Chemikaliengesetz, das Produktesicherheitsgesetz oder die Mutterschutzverordnung von Bedeutung.

Im Alltag bedeutet dies, dass sich Personen, die sich mit dem Thema Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz befassen, auf ganz unterschiedlichen Gebieten auskennen müssen. Beim einen Betrieb geht es um die Sicherheit und die Instandhaltung von Maschinen, bei einem anderen um den Umgang mit gefährlichen Stoffen, die Beschaffung und den Unterhalt von persönlicher Schutzausrüstung oder die Erste Hilfe. Sie müssen sich also über alle Gefährdungen bewusst sein, die in ihrem Betrieb vorkommen, diese nach Möglichkeit entschärfen und dafür sorgen, dass die eingeführten Sicherheitsregeln immer aktuell, vollständig und auf dem neusten Stand der Technik sind. Dies bedeutet eine hohe Verantwortung, die beispielsweise auch die Instruktion der Mitarbeitenden und die Kontrolle der durchgeführten Massnahmen beinhaltet.

Was ist die «Mission» des Arbeitsinspektorats?
In erster Linie ist es unsere Aufgabe, den vom Bund vorgegebenen Auftrag zu erfüllen: die Sicherstellung eines materiell und rechtlich einwandfreien Vollzugs des Arbeitsgesetzes sowie des Unfallversicherungsgesetzes. Das heisst konkret, den Betrieben einerseits kompetente Unterstützung und Beratung in allen Belangen der Arbeitssicherheit und des Gesundheitsschutzes anzubieten. Andererseits sollen durch die Vermeidung von Unfallgefahren und Gesundheitsgefährdungen am Arbeitsplatz sichere Arbeitsbedingungen geschaffen werden, was sowohl dem Arbeitnehmer als auch dem Arbeitgeber zugute kommt. Das umfasst aber auch Kontrollen, z.B. des Sicherheitssystems oder der Arbeitszeitaufzeichnungen, allenfalls mit Auflagen, Verwarnungen und als ultima ratio Verfügungen zur Durchsetzung von Massnahmen.

Für uns als Arbeitsinspektorat ist die stetige Weiterentwicklung in einem Umfeld einer dynamischen Arbeitswelt von zentraler Bedeutung. Wir müssen auf dem aktuellen Wissensstand sein, um den Realitäten im Arbeitsalltag in Zeiten der Globalisierung und Digitalisierung wie New Work, Homeoffice, Gig-Economy, aber auch dem Phänomen der stetigen Zunahme psychosozialer Risiken kompetent begegnen zu können.

«Sicheres Verhalten soll zur Gewohnheit, zur Kultur werden.»

In die Überwachung der Vorschriften bzgl. Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz in den Unternehmen sind neben den kantonalen Arbeitsinspektoraten auch noch die SUVA und verschiedene Fachorganisationen involviert. Wer ist für was zuständig?
Der Vollzug ist vereinfacht gesagt auf drei Durchführungsorgane aufgeteilt. Die Suva ist zuständig für Betriebe, die durch besondere Gefährdungen ein erhöhtes Unfallrisiko aufweisen, wie beispielsweise Betriebe der chemischen Industrie, der Maschinen- und Metallindustrie oder des Baugewerbes. Die kantonalen Arbeitsinspektorate beaufsichtigen die Anwendung der Vorschriften über die Arbeitssicherheit in den restlichen Wirtschaftszweigen mit geringeren Gefährdungen, sofern dafür kein anderes Durchführungsorgan zuständig ist. Das Staatssekretariat für Wirtschaft SECO ist zuständig für die Verwaltung, die Betriebe und Anstalten des Bundes.

Es existieren ausserdem Fachorganisationen wie das Eidgenössische Starkstrominspektorat ESTI, der Schweizerische Verein für Schweisstechnik SVS, der Schweizerische Verein des Gas- und Wasserfaches SVGW oder die Stiftung agriss, welche die Arbeitssicherheit und den Gesundheitsschutz auf landwirtschaftlichen Betrieben mit familienfremden Angestellten kontrolliert. Schliesslich beaufsichtigt die SUVA die Anwendung der Vorschriften über die Verhütung von Berufskrankheiten in allen Branchen.

In welchen Situationen passieren am meisten Arbeitsunfälle?
An erster Stelle stehen Sturz- und Stolperunfälle. Weiter geschehen durch das Getroffenwerden von Gegenständen, zum Beispiel durch Flüssigkeiten oder Fremdkörper wie Staub, Späne oder Splitter von Schleif- oder Bohrmaschinen, häufig Unfälle. Bei solchen Situationen sind meist die Augen betroffen. An dritter Stelle stehen sich schneiden, gestochen, gekratzt, geschürft werden, was beispielsweise in Küchen und Spitälern vorkommt. Dieses Bild ist seit vielen Jahren relativ konstant.

Welche Branchen sind am häufigsten betroffen?
Gemäss der neusten Unfallstatistik der Unfallversicherung UVG ereignen sich im Bereich der Kunst, Unterhaltung und Erholung mit 175 Unfällen pro 1000 Vollbeschäftigte am meisten Unfälle. Im Baugewerbe sowie in der Land- und Forstwirtschaft ereignen sich hingegen die schweren Unfälle.

Wie haben sich die Berufsunfallzahlen in den letzten Jahren entwickelt?
Das Unfallrisiko im Beruf hat in den vergangenen 30 Jahren stetig abgenommen. Während 1986 über alle Berufe rund 110 Fälle je 1000 Vollbeschäftigte verzeichnet wurden, liegt dieser Wert seit dem Jahr 2016 bei 63 Fällen. In diesem Zeitraum ist das Unfallrisiko im Beruf um 45% gesunken. Diese positive Entwicklung ist erstens auf die vielfältigen Massnahmen zur Verhütung von Unfällen und Berufskrankheiten zurückzuführen. Eine zweite Ursache für den konstanten Rückgang ist die fortschreitende Tertiärisierung der Wirtschaft. Drittens hat auch die demografische Veränderung die Entwicklung des Unfallrisikos beeinflusst.

Was können und müssen Arbeitgeber konkret tun, um die Unfallgefahr zu reduzieren?
Das Ziel besteht darin, unsichere Situationen rasch zu erkennen und zu beheben, damit Unfälle gar nicht erst passieren. Arbeitgeber sind verpflichtet, alle Massnahmen zu treffen, die nach der Erfahrung notwendig sind, dem Stand der Technik entsprechen und den gegebenen Verhältnissen angemessen sind, um Berufsunfälle und Berufskrankheiten zu verhindern. Sie müssen im Rahmen ihrer Fürsorgepflicht einen sicheren Arbeitsplatz zur Verfügung stellen, der die Gesundheit der Mitarbeitenden nicht beeinträchtigt.

Eine gute Aus- und Weiterbildung sowie Instruktion der Arbeitnehmenden, eine gezielte, risikoorientierte Prävention, wozu auch eine gelebte Fehlerkultur mit eigenen Auswertungen der betriebsinternen Unfälle und Beinaheunfälle gehört, sind unerlässlich. Wichtig sind auch eine gelebte Sicherheitskultur mit regelmässiger Überprüfung und kontinuierlichen Anpassungen, dem Einbezug der Mitarbeitenden sowie eine überzeugte und involvierte Führung, die eine Vorbildrolle übernimmt. Sicheres Verhalten soll zur Gewohnheit, zur Kultur werden.

Dies ist eine gekürzte Fassung des Interviews. Lesen Sie das ganze Gespräch in der aktuellen Printausgabe.

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