Experten-Interviews

Dezember 2020/Januar 2021

Vorsorge im Fokus: «Radikale Reformen finden bei uns fast nie einen Konsens»

Die Altersvorsorge steht aufgrund der demografischen Veränderung vor einer riesigen Herausforderung. Grössere Reformen sind in letzter Zeit alle gescheitert. Wir haben Hans Zeltner, den Präsidenten des Schweizerischen Verbands der Sozialversicherungs-Fachleute Region Nord-Ostschweiz, um eine Einschätzung zur anstehenden BVG-Revision gebeten. Im Interview spricht der Sozialversicherungsexperte ausserdem über den Einfluss der Corona-Pandemie, Nachhaltigkeit und digitale Lösungen in der beruflichen Vorsorge.

Von: Dave Husi   Teilen  

Dave Husi

Dave Husi ist Chefredaktor von personalSCHWEIZ.
Zuvor hat er bei einem Medien-Startup Gründerluft geschnuppert und war bei einem Fachverlag im Medizinbereich journalistisch tätig.

Vorsorge im Fokus

Herr Zeltner, Sie sind Präsident des Schweizerischen Verbands der Sozialversicherungs-Fachleute Region Nord-Ostschweiz. Was sind die aktuellen Herausforderungen in Ihrer Aufgabe?
Nachhaltigkeit und Altersvorsorge sowie optimale Rahmenbedingungen und lebenslanges Lernen. Dazu gehören Gesetzesrevisionen und laufende Projekte. Für die Reform der Ergänzungsleistungen bleiben gerade mal zehn Wochen Zeit, um die neuen Gesetzesartikel vor Inkrafttreten zu studieren. Eine Herausforderung ist, dass die Sozialversicherungs-Fachleute unseres Verbands mit der Dynamik mithalten können.

Was ist Ihre Meinung als Sozialversicherungsexperte zur anstehenden BVG-Reform?
Zuerst ein kurzer Blick zurück: Anfangs waren die Pensionskassen einer kleinen Elite vorbehalten. Im Laufe des 20. Jahrhunderts wurden sie laufend ausgebaut und gelten heute als 2. Säule der schweizerischen Sozialversicherungen für die Altersvorsorge. Noch immer aber sind aufgrund des Koordinationsabzugs nicht alle Arbeitnehmenden in einer Pensionskasse versichert. Die Entwicklung der Altersvorsorge wurde während des Ersten Weltkriegs beschleunigt. Neben steuerlichen Anreizen gründeten die Unternehmungen auch Pensionskassen, um ihr Personal an sich zu binden. Man sprach in diesem Zusammenhang von «goldenen Fesseln». Die sozialen Spannungen, welche 1918 im Generalstreik gipfelten, sollten dadurch vermindert werden. Es ist zu begrüssen, dass der Bundesrat nach der Abstimmungsniederlage bei der Altersvorsorge 2020 vom 24. September 2017 einen weiteren Versuch startet, die gesetzlichen Rahmenbedingungen an die veränderten demografischen und finanzmarkttechnischen Gegebenheiten anzugleichen. Dazu zählt insbesondere auch die Senkung des Mindestumwandlungssatzes im obligatorischen Bereich.

In welchem Bereich wird die Reform eine «Lösung» bringen?
Zusammenfassend werden im Rahmen des Gesetzesvorentwurfs die bisherigen Solidaritäten aufgrund der Umverteilung von aktiven Versicherten zu Rentnern teilweise abgebaut und durch neue Solidaritäten ersetzt, welche wiederum den künftigen Rentnern zugutekommen. Es bleibt abzuwarten, inwiefern ein optimales Gleichgewicht zwischen einer kompromissfähigen und einer nachhaltigen Lösung von der Bevölkerung mitgetragen wird.

Wo wird sie scheitern?
Anlass zu Diskussionen und Kontroversen geben zweifelsohne die Senkung des BVG-Umwandlungssatzes sowie der zum Ausgleich dieser Umwandlungssatzsenkung vorgesehene Rentenzuschlag. Dies aus den folgenden Gründen: Ein Umwandlungssatz von 6% ist versicherungstechnisch bereits überholt, was sich darin widerspiegelt, dass die Umwandlungssätze bei einigen umhüllenden Vorsorgeeinrichtungen bereits unter 6% respektive sogar unter 5% liegen. Der Rentenzuschlag wird für sämtliche anspruchsberechtigte Rentner einer Übergangsgeneration gleich sein – und zwar unabhängig von der Rentenhöhe und dem über das BVG hinausgehenden Anteil der Rente. Er wird über zusätzliche Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeiträge finanziert, was zur Einführung einer neuen systemfremden Umlagekomponente von Jung zu Alt sowie von Vorsorgeeinrichtungen mit einer vorteilhaften Altersstruktur zu den anderen führt. Ich hoffe, dass eine sozialverträgliche Lösung von den Stimmberechtigten mitgetragen wird. Denn zuwarten kostet einfach noch mehr Geld.

Die BVG-Reform sieht vor, dass es künftig nur noch zwei Abstufungen bei den Altersgutschriften geben soll: 9% für Personen unter 45 Jahren und 14% für ältere Personen. Werden dadurch die älteren Arbeitnehmenden wieder attraktiver für die Unternehmen?
Die Wirtschaft braucht Fachkräfte. Und Menschen brauchen Jobs. Jedoch altert unsere Gesellschaft und mit ihr die Fachkräfte. Heute hat bereits jede fünfte erwerbstätige Person das 55. Lebensjahr überschritten. Die Verantwortlichen in den Betrieben sind deshalb gefordert, schon heute die Weichen zu stellen, um das Potenzial von Älteren noch besser auszuschöpfen. Von den 27% der über 50-Jährigen in der Schweiz, die auch über das Rentenalter hinaus arbeiten möchten, wollen 51% so arbeiten wie bisher, während 35% nur ihr Pensum reduzieren wollen. Wenn sie die freie Wahl hätten, bevorzugten 27% der über 55-Jährigen eine Teilzeitanstellung, 15% Freelancing, 10% die Selbstständigkeit und 18% eine Portfolio-Karriere. Unternehmen müssen mehr Karrieremodelle anbieten, die es den Mitarbeitenden erlauben, länger und flexibler zu arbeiten. Ebenfalls müsste die Personalstrategie angepasst werden, um ein längeres Erwerbsleben zu ermöglichen. Dadurch können auch die Lohnkosten tiefer gehalten werden.

Vorsorge ist für junge Arbeitnehmende ein wenig attraktives Thema. Die eigene Pensionierung liegt in weiter Ferne, und ob es dann überhaupt noch eine Rente geben wird, scheint auch nicht mehr so sicher. Wie kann man das Thema einer jüngeren Generation von Arbeitnehmenden trotzdem zugänglich machen?
Die Berufliche Vorsorge ist in der Bundesverfassung im Art. 113 verankert. Diese kann nur durch das Stimmvolk geändert werden. Aus diesem Grund ist davon auszugehen, dass die BVG im Grundsatz bestehen bleibt. In einem Punkt gebe ich Ihnen aber recht: die Höhe der Renten wird sich durch die längere Lebenserwartung verringern. Das ist wie bei einem Geburtstagskuchen, der nun für 10 und nicht mehr nur für 6 Personen reichen muss. Die Berufliche Vorsorge deckt nicht nur den Sparteil für die Altersvorsorge ab, auch bei Invalidität und im Todesfall erbringt sie Leistungen. Nehmen wir ein Beispiel: Eine erwerbstätige Person mit zwei schulpflichtigen Kindern ist im Alter von 34 Jahren an einem Herzversagen verstorben. Die Pensionskasse erbringt Leistungen in Form von Ehegattenrenten und Waisenrenten. Auch bei einer Invalidität erbringt die Pensionskasse Rentenleistungen. Aus diesem Grund ist das Thema Pensionskasse auch für Junge sehr wichtig.

Wie kann HR das Thema besser vermitteln?
Viele Versicherte können leider den Vorsorgeausweis weder lesen noch interpretieren. Da gibt es viel zu tun für das HR. Erstens müssen Sie sich mit dem Thema von Grund auf selbst fit machen und zweitens Informations- und Weiterbildungsveranstaltungen für die Mitarbeitenden in Ihrer Firma durchführen. Optimal wäre auch, die AHV und die dritte Säule miteinzubeziehen. Diese Themen werden in Zukunft noch einen höheren Stellenwert in den Unternehmungen erhalten.

Was halten Sie von neuen Dienstleistungen wie denjenigen von «Selma Finance» oder «frankly» von der ZKB, bei denen Versicherte digital, respektive via App, selbst die eigene Säule 3a verwalten können?
In der heutigen Gesellschaft gibt es ein menschliches Bedürfnis nach Vernetzung. Die konsequente Nutzung der technologischen Möglichkeiten entspricht dem Zeitgeist. Die Pensionskassenverwaltung hat, verglichen mit anderen Branchen, sicherlich noch Nachholbedarf in Bezug auf die Digitalisierung. Zudem werden die Kunden, d.h. die Firmen und die Destinatäre, immer mehr Einblick und Autonomie fordern. Die Pensionskassen werden zu Plattformbetreibern, auf welchen die angeschlossenen Firmen und die versicherten Destinatäre selbstständig ihre Geschäftsvorfälle abwickeln, ähnlich wie das im Bankwesen schon weit verbreitet ist. So hat beispielsweise der Pensionskassendienstleister BERAG eine App für die Versicherten entwickelt. Mit dieser Portallösung sind die Nutzer in der Lage, jederzeit, an jedem Ort und über alle Medien (Mobile, Tablet, Web) alle persönlichen PK-Daten einzusehen und alle Geschäftsvorfälle eigenständig abzuwickeln.

Sind solche digitalen Lösungen zukunftsträchtig?
Die Digitalisierung ist nicht mehr aufzuhalten. Wichtig scheint mir, dass die Anwenderinnen und Anwender nachvollziehen können, was sie gerade gemacht haben und welche Auswirkungen und Konsequenzen es für sie persönlich hat. Die Themen «Umweltbewusstsein» und «Nachhaltigkeit» werden immer wichtiger.

Sollten Pensionskassen dazu verpflichtet werden, ökologischer und nachhaltiger zu investieren?
Der Klimawandel schreitet voran und betrifft sämtliche Bereiche unseres Lebens. Nachhaltigkeit ist zu einem zentralen Thema geworden. Die Pensionskassen nehmen die Gefahren, die durch den Klimawandel hervorgerufen werden, ernst. Viele haben deshalb längst damit begonnen, ihre Anlagepolitik anzupassen. Die Pensionskassen müssen jedoch einen Spielraum in der Anlagepolitik haben. Ein zu engmaschig gesetztes Korsett kann zu Handlungsunfähigkeit führen.

Was hat die Corona-Pandemie für einen Einfluss auf die Vorsorge?
Die Reduktion beträgt je nach Pensionskasse bzw. deren Anlagestrategie rund 5 bis 10 Prozent im ersten Quartal. In der Zwischenzeit haben sich die Börsen teilweise erholt, und das erwähnte Minus hat sich reduziert. Jedoch bleiben sowohl Schwankungen als auch die Unsicherheiten über die zukünftige Entwicklung hoch.

Einige werden sich fragen: Ist meine Rente sicher?
Generell müssen sich Pensionskassen und deren Versicherte noch keine Sorgen machen; die Renten sind weiterhin sicher. Die wirtschaftliche Entwicklung der nächsten Jahre wird jedoch massgeblich durch die Coronavirus-Pandemie geprägt. Eine Rezession ist sehr wahrscheinlich.

Dies ist eine gekürzte Fassung des Interviews. Lesen Sie das ganze Gespräch in der aktuellen Printausgabe.

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