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Psychological Safety: Mit Sicherheit zum Erfolg

Psychological Safety ist in aller Munde. Wundermittel oder nur Placebo am Arbeitsplatz? Warum Firmen darauf setzen, wann sie damit Erfolg haben, und was F. Dürrenmatt damit zu tun hat — testen Sie Psychological Safety in Ihrem Team!

Von: Balz Marti   Teilen  

Balz Marti

Balz Marti studierte Arbeits- und Organisationspsychologie an der Universität Bern und ist aktuell als Senior HR Business Partner in einem multinationalen Unternehmen tätig. Er arbeitet zudem als selbstständiger HR-Berater und spricht und unterrichtet zu aktuellen HR-Themen (z.B. FH Fribourg/ZHAW/Spot On People Podcast).

Psychological Safety

«Kommen Sie herauf», forderte ihn der Kommissär auf. Der Bauer zögerte. «Geh, Heiri», rief einer, «sei kein Feigling.» Der Bauer kam herauf. Unsicher. Der Gemeindepräsident und der Staatsanwalt waren in den Hausgang des Hirschen zurückgetreten, sodass Matthäi mit dem Bauern allein auf der Plattform stand. «Was wollen Sie von mir?», fragte der Bauer. «Ich bin der Benz Heiri.» Die Mägendorfer starrten gespannt auf die beiden.1

Worum es geht, und warum gerade jetzt
Hand aufs Herz: Situationen wie jene in Friedrich Dürrenmatts «Versprechen» sind auch uns bekannt. Und zwar nicht unbedingt, weil wir die Antwort nicht wissen, sondern aus Angst davor, durch eine Antwort oder Meinung negative Reaktionen hervorzurufen.

Gemäss Gallup-Daten denken nur drei von zehn Amerikanern, dass ihre Meinung etwas zählt. Würde dieser Wert verdoppelt, könnten Firmen offenbar 27% mehr Umsatz erzielen, 40% aller Unfälle verhindern und 12% Produktivitätssteigerung erreichen.2

Und so hätten auch einige der grossen Skandale wie Dieselgate bei VW oder die Finanzkrise der 2000er-Jahre verhindert werden können, wenn die Geschäftsleitung die Bedenken ihrer Belegschaft ernster genommen und rechtzeitig aus Fehlern gelernt hätte.3

Stattdessen war die Vertuschung von Fehlern jahrzehntelang Teil der Firmenkultur, aus Angst, dafür bestraft zu werden, statt sie aufzudecken und aus ihnen zu lernen. Folgen davon waren vermindertes Wohlbefinden, einschliesslich Stress, Burn-out sowie erhöhte Fluktuationsraten.4

Das Prinzip der Stunde heisst «Psychologische Sicherheit» oder Neudeutsch: Psychological Safety. Und vielleicht ist es kein Zufall, dass der Begriff gerade jetzt in aller Munde ist: Einerseits wirken die geopolitische und wirtschaftliche Instabilität verunsichernd. Andererseits müssen Unternehmen agiler, resilienter und innovativer werden, um sich diesen rasch ändernden Anforderungen anzupassen, was das Verlangen nach «menschlicher» Sicherheit noch verstärken dürfte. Und schliesslich äussert die auf den Markt strömende Generation Z gemäss «more agility now» vermehrt das Bedürfnis nach Psychological Safety.5

Woher Psychological Safety kommt
Ursprünge finden sich, wie viele andere arbeitspsychologische Konzepte, in der Psychotherapie: Carl Rogers, Vertreter der Humanistischen Psychologie, verband Psychological Safety in den 50er-Jahren mit der Förderung von Kreativität.6

In den Schriften von Edgar Schein und Warren Bennis wird der Begriff in den 60er-Jahren erstmals im Zusammenhang mit Change-Management verwendet, nämlich als Teamspirit, in welchem erhöhte Risiken und Versuch und Irrtum ohne Angst vor Strafe oder Ablehnung gefördert werden.7 Und William Kahn fand 1990, dass Mitarbeitende engagierter und auch gewillter sind, ihr Bestes zu geben, wenn Psychological Safety innerhalb der Gruppe gegeben war.8

Was Psychological Safety bedeutet
Amy Edmondson, Leadership-Professorin an der Harvard Business School, war es schliesslich, die dem Begriff um die Jahrtausendwende mit breit angelegten Studien die Relevanz verlieh, die er heute hat. Sie definierte Psychological Safety als «a belief that one would not be punished or humiliated for speaking up with ideas, questions, concerns or mistakes and that the team is safe for interpersonal risktaking». Psychological Safety ermöglicht es demnach den Teammitgliedern, sich ohne Furcht vor negativen Konsequenzen zu äussern, Fehler einzuräumen und gemeinsam daraus zu lernen.

Was Psychological Safety bewirkt
Es erstaunt vor diesem Hintergrund nicht, dass das bahnbrechende Projekt «Aristoteles» von Google im Jahre 2012 und der nachfolgende Bericht in der New York Times Firmen rund um die Welt dazu veranlassten, das Konzept der psychologischen Sicherheit in ihre Leadership-Offerings aufzunehmen: Google fand in seiner Studie zu «effective teams» nämlich, dass Psychological Safety der wichtigste Faktor für leistungsstarke Teams ist. Purpose zum Beispiel stand nur an vierter Stelle.9 Der Erfolg der Aristoteles- Studie wird auch durch Beobachtungen von Dr. Joachim Maier von der ZHAW bestätigt.10

Dieser positive Effekt von Psychological Safety auf Leistung kommt insbesondere in agilen Organisationen oder Transformationsprojekten zum Tragen, in denen kontinuierliches Lernen und Innovation zur Firmenkultur gehören: Fehler werden abgefedert und in Lernen transformiert, und Lernen in Innovation und Leistung. Und auf Individuen bezogen: Psychological Safety wirkt besonders unterstützend, wenn Mitarbeitende ihre Komfortzone verlassen und Neues in Angriff nehmen (z.B. erweiterte Aufgaben, neue Funktion), wie die untere Grafik illustriert.11 Siehe auch hier.

Warum es so schwierig ist …
Somit müsste es doch ein Leichtes und im (durchaus ökonomischen) Interesse aller sein, Psychological Safety in den Teams zu etablieren. Tatsächlich aber scheitern diesbezügliche Versuche oft an mindestens zwei Dingen: an den Partikularinteressen der Mitarbeitenden und am Führungsstil.

Noch immer ist die Motivation nach Selbstoptimierung gemäss der Principal-Agent Theory weit verbreitet, wonach nicht die erfolgversprechendsten Handlungen für das Unternehmen, sondern für die eigene Karriere gewählt werden, nicht selten zuungunsten einer verstärkten Kollaboration zur allgemeinen Verbesserung.12 Daniela Landherr, Executive Coach und zuvor Head Talent Engagement bei Google, veranschaulicht dieses Phänomen in einem Ted Talk zu Psychological Safety mit einer wunderbaren Analogie aus der Welt der Pinguine. Diese opfern nämlich – anders als wir – beim Jagen im ärgsten Fall einen ihrer Artgenossen und finden im besten durch ihn sichere Jagdgründe. Dabei steht der Gedanke, der Pinguinfamilie als Kollektiv Gefahr oder Sicherheit zu signalisieren, im Vordergrund. Wir hingegen tendieren im Falle eines Fehlers dazu, auf andere zu zeigen, Erfolg jedoch auf uns selbst zu attribuieren.13

Zum Führungsstil fand Mc Kinsey in einer Analyse, dass nur 26% aller befragten Vorgesetzten Psychological Safety kreieren. Und gerade in Zeiten, in denen Unternehmen unter Kostendruck stehen, erscheint ein direktiver, autoritärer Führungsstil zunächst effektiver.14

… und wie wir es doch schaffen
Auf den zweiten Blick aber ist ein Führungstyp leistungsfördernder, bei dem die Bedürfnisse des Teams im Zentrum stehen, um gemeinsam zum Ziel zu gelangen: der Servant Leader (dessen Begründer, Robert Greenleaf, wurde von der Lektüre von Hermann Hesses «Morgenlandfahrt» dazu inspiriert).15

Heike Bruch, mehrfach ausgezeichnete Professorin für Leadership an der Uni St. Gallen, bringt es auf den Punkt: «Psychologische Sicherheit entsteht, wenn es einer Führungskraft gelingt, eine Kultur des Vertrauens, der Wertschätzung und des Respekts zu schaffen.»16 Und auch die genannte Mc-Kinsey-Analyse fand, dass ein positives Teamklima, wobei gegenseitige Wertschätzung, Sorge und Mitbestimmung überwiegen, den grösseren Effekt auf Psychological Safety hat als zum Beispiel die Beziehung zur Führungsperson.

Daniela Landherr nennt als wichtigen Schlüssel für Psychological Safety das Vulnerability-Paradoxon von Brene Brown: «It’s the first thing I am looking for in you, and it is the last thing I am willing to show. In you it is courage and daring; in me, it’s a weakness.»17 Mit anderen Worten: Indem der Chef sich verletzlich zeigt, stärkt er den Teamgeist und schafft einen sicheren Rahmen, in dem das Team aus Fehlern gemeinsam lernen kann.

Darüber hinaus beschreibt Amy Edmondson im hörenswerten Podcast mit Nicolai Tangen18 auch das Eingestehen von Fehlern, Offenheit («Candor») in Kombination mit positiven Aussichten, Humor (solange nicht auf Kosten anderer) sowie aktives Zuhören, Wertschätzung und Demut als förderlich für Psychological Safety.

CHECKLISTE — WANN FÜHLE ICH MICH PSYCHOLOGISCH SICHER?19

  1. Wenn ich einen Fehler mache, wird dies nicht gegen mich verwendet.
  2. Teammitglieder können Probleme und schwierige Themen zur Sprache bringen.
  3. Im Team werden Unterschiede zwischen den Mitgliedern voll und ganz akzeptiert.
  4. Es geschieht nichts, wenn im Team persönliche Risiken eingegangen werden.
  5. Es ist nicht schwierig, andere Teammitglieder nach Hilfe zu fragen.
  6. Niemand im Team würde absichtlich meine Bemühungen untergraben.
  7. In der Zusammenarbeit mit den Teammitgliedern werden meine spezifischen Fähigkeiten und Talente geschätzt und genutzt.

Das Fazit …
Psychological Safety wird zum firmenkulturellen Imperativ, indem …

  •  … sie als Katalysator eine Vielzahl von essenziellen Themen begünstigt: Lernen, Kreativität, Innovation und Leistung.
  •  … die Generation Z, die auf den Arbeitnehmermarkt drängt, mehr und mehr ein sicheres Teamklima einfordert, gerade in unsicheren Zeiten.
  •  … Führungskräfte statt eines direktiven Führungsstils Servant Leadership einsetzen

… oder wie Friedrich Dürrenmatt «das Versprechen» vielleicht eingelöst hätte
Und hätte Kommissär Matthäi, statt die vermeintlichen Zeugen in zeitgemäss autoritärem Führungsstil einzeln auf die Plattform zu rufen, als Servant Leader mit vereinten Kräften und seiner Zeit voraus in psychologisch sicherem Rahmen den Mörder zu eruieren versucht – wer weiss, ob er Albert Schrott doch hätte zu Lebzeiten stellen können.

Quellen und Hinweise
1 Friedrich Dürrenmatt (1985). Die Kriminalromane. Diogenes, S. 389–390.
2 Gallup: How to Create a Culture of Psychological Safety, in: Gallup, 7.12.2017, www.gallup.com/workplace/236198/create-culturepsychological-safety.aspx (abgerufen am 7.4.2023).
3 Natalie Gratwohl: Eine Angstkultur kann grossen Schaden anrichten – weshalb Firmen umdenken, in: www.nzz.ch/wirtschaft/angstkultur-das-schweigen-der-mitarbeiter-schadet-den-firmenld.1682539? (abgerufen am 5.1.2023)
4 Amy Gallo: What is Psychological Safety? In: Harvard Business Review, 15.2.2023, https://hbr.org/2023/02/what-is-psychologicalsafety (abgerufen am 21.3.2023).
5 More agility now: Generational Difference, in: https://moreagilitynow.com/generation-z-barriers-to-psychologicalsafety/ (abgerufen am 1.4.2023).
6 Rogers, Carl (1954). «Chapter 13: Towards a Theory of Creativity.» In: Vernon, P.E (ed.). Creativity Selected Readings, Penguin Books, pp. 137–151.
7 Schein, Edgar H.; Bennis, Warren G. (1965). Personal and organizational change through group methods: the laboratory approach. New York: Wiley. Pp. 44–45. ISBN 978-0471758501.
8 William Kahn, 1990. «Psychological Conditions of Personal Engagement and Disengagement at Work.» Academy of Management Journal. 33 (4): 692–724.
9 Guide: Understand team effectiveness. Google Study, in: https://rework.withgoogle.com/print/guides/5721312655835136/ (abgerufen am 17.3.2023).
10 Joachim Maie. Psychologie im Alltag nutzen, in blog.zhaw.ch/iap/2021/05/10/psychologische-sicherheit-wie-aufrichtig-kann-ichin-meinem-team-kommunizieren/ (abgerufen 17.3.2023).
11 Shane Snow: Why Psychological Safety is Important for Productive Teamwork, in: shanesnow.com/research/why-psychologicalsafety-is-important-for-productive-teamwork (abgerufen am 9.4.2023).
12 Marvin Berhold, A Theory of Linear Profit-Sharing Incentives, in: Quarterly Journal of Economics 85, 1971, S. 85.
13 TEDx Talk: Daniela Landherr on «How Psychological Safety Drives Innovation», in: www.youtube.com/watch?v=SFQBn0Ngsuc (abgerufen am 15.4.2023)
14 Mc Kinsey, 11.2.2021. Psychological safety and the critical role of leadership development, in: www.mckinsey.com/capabilities/people-and-organizational-performance/our-insights/psychologicalsafety-and-the-critical-role-of-leadership-development (abgerufen 20.3.2023).
15 Robert K. Greenleaf. The Servant as Leader. Robert K. Greenleaf: The Servant as Leader. Neuauflage. The Robert K Greenleaf Center, 1991 (Erstauflage 1970).
16 Lyreco, 5.9.2022. Führung in einer neuen Zeit – über Digital Leadership und psychologische Sicherheit, in: lyreco.com/group/switzerland/de/stories/fuehrung-einer-neuen-zeit-ueber-digital-leadershipund-psychologische-sicherheit (abgerufen am 8.4.2023).
17 Brené Brown: The Courage to Be Vulnerable. In: www.youtube.com/watch?v=NgmJinwZDgw (abgerufen am 8.4.2023).
18 Amy Edmondson: In Good Company with Nicolai Tangen. Nicolai Tangen, Sep. 2022.
19 Matt Windsor (2019). Psychological safety is the secret to workplace success. University of Alanama at Birmingham, 2019.

(Dieser Beitrag ist in der Ausgabe Juni 2023 von personalSCHWEIZ erschienen)

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