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Führungsverständnis in einer neuen Arbeitswelt: Selbstorganisation ohne Führung?

Auch Selbstorganisation braucht Führung. Damit Gruppen arbeitsfähig sind, ist es fast immer notwendig, dass sich jemand um Orientierung und Zusammenhalt kümmert. Aber die hierarchische Führung dürfte an Bedeutung verlieren. Eine neue Balance von Führung und Autonomie zeichnet sich ab.

Von: Daniel Marek   Teilen  

Dr. Daniel Marek

Dr. Daniel Marek ist Organisationsberater und Coach BSO, Dozent an der Swiss HR Academy und an der Fachhochschule Nordwestschweiz. Er führt in Zürich ein eigenes Beratungsunternehmen für Teamcoaching und Organisationsentwicklung.

Führungsverständnis in einer neuen Arbeitswelt

«Ohne Chef gehts nicht!», titelte der Blick noch 2017 bewusst provokativ. Seither haben selbstorganisierte Unternehmen viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Sie versprechen nicht nur mehr Agilität und Effizienz, sondern auch Sinnerfüllung und eine erhöhte Zufriedenheit der Mitarbeitenden. Alles Werte, die zu einer neuen Arbeitswelt passen. Modelle der Selbstorganisation, wie die Soziokratie oder die Holokratie, stellen das hierarchische Führungsverständnis zwangsläufig infrage.

Postulate und Herausforderungen
Einzelne Stimmen postulieren eine radikale Dezentralisierung der Führung zugunsten von autonomen Teams, die wie kleine Unternehmen oder selbststeuernde Zellen funktionieren. Sogar innerhalb der Zellen sollen sich die Mitarbeitenden möglichst autonom abstimmen (Marek, 2022). In der Praxis bestehen freilich zahlreiche Mischformen zwischen Selbstorganisation und Hierarchie. Unabhängig von der Wahl des Organisationsmodells dürften Selbstführung und Selbstverantwortung grundsätzlich an Bedeutung gewinnen, wie einzelne Ergebnisse der sechsten IAPStudie der «Mensch in der Arbeitswelt 4.0» nahelegen (Majkovic u.a., 2022).

Die grösste Herausforderung der Selbstorganisation liegt im Zusammenhalt und in der Abstimmung unter den Teams. Autonomie hat ihre Grenzen, sobald einheitliches Handeln gefragt ist. Die Organisationslehre spricht vom Dilemma zwischen «Initiative» und «Kooperation» (Roberts, 2007, S. 96): Eine hohe Autonomie bedeutet Freiraum für eigene Initiativen, vermittelt aber wenig Anreize zur Kooperation im Unternehmen. Modelle der Selbstorganisation setzen daher auf gemeinsame Werte und ausgeklügelte Entscheidungsverfahren, um einheitliches Handeln zu gewährleisten. Eine zusätzliche Herausforderung ist die Tatsache, dass der Gesetzgeber oder die Öffentlichkeit eindeutige Ansprechpartner verlangen, die für grundlegende Entscheide in der Organisation die Verantwortung übernehmen.

Beobachtungen aus der Praxis
Eine Reihe von Unternehmen, etwa im Gesundheitssektor, in den Medien oder in der Informatik, experimentieren mit Selbstorganisation. So entscheiden bei einzelnen Spitex-Anbietern die Teams fast alle operativen Angelegenheiten selbst. Zentrums- oder Teamleitungen für Koordination gibt es keine mehr. In einem Ingenieur-Unternehmen übernehmen Fachgruppen die Zuteilung und Koordination der Kundenprojekte. Der reinen Lehre der Selbstorganisation entsprechen diese Muster jedoch nicht. In beiden Fällen gibt es nebst einem zentralen Support-Center eine Geschäftsleitung, die strategische Entscheide fällt und als Ansprechpartnerin nach aussen auftritt.

Führungsrollen werden also weiterhin gebraucht. Nicht einmal vollständig selbstorganisierte Unternehmen können auf Anker und Leitplanken verzichten. Die Ansprüche der Mitarbeitenden an Orientierung und Sinnstiftung bleiben ja bestehen. Die Erfahrung zeigt zudem, dass Konflikte eindeutige Schlichtungsinstanzen und Entwicklungsprozesse häufig eine Begleitung erfordern. Das sind in der Regel Führungsaufgaben. Dieses Bild deckt sich mit der Diskussion unter Fachleuten: Die «radikale Selbstorganisation» ist vielleicht nicht unmöglich, aber zumindest sehr anspruchsvoll (Müller, 2020). Daher stellt sich weniger die Frage, ob es noch «Chefs» braucht, sondern vielmehr, welche Führungsrollen in Zukunft sinnvoll sind.

Balance zwischen Führung und Autonomie
Neue Führungsrollen werden derzeit intensiv diskutiert – nicht zuletzt, weil eine jüngere Generation von Mitarbeitenden andere Erwartungen an Kommunikation und Beteiligung mitbringt. Es gibt zahlreiche Ansätze, die den Anspruch haben, das angemessene Führungsverständnis in einer neuen Arbeitswelt zu beschreiben. Derzeit stehen folgende Strömungen im Vodergrund:

  • Vorrang der transformationalen Führung, d.h. weniger direkte Steuerung und Koordination der Arbeit, hin zu mehr Führung durch geistige Anregung, Vorbildwirkung und individuelle Behandlung. Damit dürften jedoch zentrale Entscheidungsbefugnisse der Führungskräfte nicht vollständig verschwinden.
  • Führung als Dienstleistung (Servant Leadership), die Unterstützung des Teams und der einzelnen Mitarbeitenden auf dem Weg zum Erfolg gilt als wichtigste Führungsaufgabe.
  • Verteilte und temporäre Führungsrollen (Shared Leadership), wie Fachführung oder Scrum Master, ergänzen oder ersetzen herkömmliche Führungspositionen.

Diese Führungsansätze haben alle eine Verschiebung des Verhältnisses zwischen Führung und Autonomie zur Folge. Die optimale Balance zwischen diesen beiden Polen muss letztlich jedes Unternehmen für sich selbst bestimmen.

Praxisbeispiel: Der Führungsansatz von «Care at Home»
Was ein neues Verhältnis von Führung und Autonomie im Alltag heissen kann, zeigt das Beispiel von «Care at Home». Das Start-up bietet hauswirtschaftliche und betreuerische Dienstleistungen für Betagte an und hat sich einem neuen stabilen Beschäftigungsmodell verschrieben. Um Qualität und Flexibilität zu gewährleisten, setzt Care at Home ausdrücklich auf Autonomie und auf einen wertschätzenden Umgang mit den Mitarbeitenden: «Unser Führungsansatz baut auf Selbststeuerung mit Verantwortung vor Ort und beruht auf einem positiven Menschenbild», erklärt Claudine Chiquet, Geschäftsführerin von Care at Home. Nicht nur der geringere Koordinationsaufwand und die Flexibilität bei der Leistungserbringung sprechen nach Meinung von Mitgründer Heinz Locher dafür, sondern darüber hinaus die günstige Auswirkung auf die Motivation der Mitarbeitenden und die Attraktivität des Arbeitsplatzes.

«Allerdings ist Selbststeuerung nicht gleichbedeutend mit Laisser-faire», betont Chiquet. «Unsere Arbeit verlangt Sicherheit und Orientierung. Wir setzen und konkretisieren Leitplanken. Zeitweise erfülle ich eine Back-up-Funktion für Situationen der Unsicherheit.» Den Fähigkeiten und Neigungen der Mitarbeitenden trägt sie individuell Rechnung und überträgt ihnen gezielt einzelne Führungsfunktionen, wie etwa die Moderation an Sitzungen. «Mitarbeitende müssen gefördert werden, ohne die Angst, dass sie besser als die Vorgesetzten werden», meint sie.

Da die Mitarbeitenden vorwiegend vor Ort bei der Kundschaft arbeiten, nutzt Claudine Chiquet die regelmässige Teamsitzung als zentrales Führungsinstrument. In diesem Gefäss werden Kundenanliegen ebenso wie das persönliche Befinden besprochen. «Das Wohlbefinden der Mitarbeitenden beeinflusst die Qualität der Dienstleistung spürbar», ist die Geschäftsführerin überzeugt. Ergänzend nutzt Chiquet für jede Kundin einen gesicherten digitalen Chat-Kanal. Dort werden alle kurzfristigen Informationen unter den Mitarbeitenden ausgetauscht. «Transparenz ist mir wichtig», sagt sie, «so haben alle den gleichen Wissensstand, und Vorurteile können gar nicht erst entstehen. Die ‹Front› soll sehen, was ‹das Büro› macht und umgekehrt»

Zentral seien die Werte in der Führung, führt Claudine Chiquet aus (vgl. Box). An erster Stelle stünden Respekt und Wertschätzung, die sich in einer angstfreien Kommunikation äusserten. Es gehe darum, psychologische Sicherheit zu vermitteln. Sie legt Wert auf gegenseitiges Feedback. Dazu gehöre ein offenes Ohr für die Anliegen der Mitarbeitenden. «Ideen werden ernst genommen – und wenn möglich umgesetzt. Die Herausforderung ist dabei, mit unterschiedlichen Standpunkten konstruktiv umzugehen», gibt sie zu. «Das beginnt vor allem bei der Führungskraft. Nicht nur das Team, auch die Führungskraft muss an sich arbeiten.» Nur so sei Lernen möglich und nur so könnten die Mitarbeitenden ihre anspruchsvolle Aufgabe erfüllen. Dies verlange Loslassen und den Verzicht auf unnötige Kontrolle, ergänzt Heinz Locher. Das gehöre ebenfalls zum positiven Menschenbild.

WERTE UND FÜHRUNGSVERSTÄNDNIS VON CARE AT HOME

  • Respekt: Achtung vor der Persönlichkeit; Respekt allen Beteiligten gegenüber; ihnen auf Augenhöhe zu begegnen, ist ein zentraler Teil unserer Arbeit.
  • Wertschätzung: Wir schätzen die Arbeit und die Hilfsbereitschaft aller Beteiligten. Ihr Engagement ist für uns keine Selbstverständlichkeit.
  • Förderung: Wir möchten unser Team durch Weiterbildung und durch Entfaltung der Persönlichkeit fördern.
  • Vertrauen: Vertrauen bringt Sicherheit und ein Gefühl der Stabilität bzw. Verlässlichkeit; das bedeutet für Kundschaft wie für Mitarbeitende mehr Lebensqualität.
  • Positive Grundeinstellung: Uns ist es wichtig, dass alle mit einer positiven Grundeinstellung arbeiten und so zur stetigen Verbesserung der Qualität von Care at Home beitragen.

Schlussfolgerungen für Personalfachleute
Das neue Verständnis von Führung wird sich unmittelbar auf die Personalentwicklung auswirken. Eine wichtige Aufgabe dürfte darin bestehen, heutige Führungskräfte bei der Ausgestaltung ihrer Führungsrolle zu unterstützen, da die Verunsicherung derzeit gross ist. Die Verschiebung von Vorstellungen und Rollen muss zudem bereits bei der Gewinnung von neuen Mitarbeitenden – mit und ohne Führungspotenzial – ansetzen. Denn Führungskräfte entwickeln heisst auch, Mitarbeitende zu fördern.

So wird die Veränderung der Führungsrollen neue Erwartungen an die Geführten nach sich ziehen. Für alle Mitarbeitenden wird der Stellenwert von Selbst- und Sozialkompetenzen steigen. Wer mehr Verantwortung übernehmen soll und will, muss sich mitteilen und sich selbst leiten können. Fähigkeiten wie Führen ohne Weisungsbefugnis (laterale Führung) kommen hinzu. Neue Schwerpunkte in der Personalentwicklung erfordern eine offene und konstruktiv geführte Diskussion im Unternehmen. Die Unternehmensleitung sollte sie bewusst pflegen, denn sie ist eine Investition in die Arbeitszufriedenheit. Sie wird die Mitarbeiterbindung wie die Arbeitsmarktattraktivität günstig beeinflussen.

Literatur

  • Majkovic, Anna-Lena/Gundrum, Ellen/Kornfeind, Julia/Müller, Andrea/Wirth, Rebecca (2022), «IAP Studie 2022: Der Mensch in der Arbeitswelt 4.0.», Zürich: IAP Institut für Angewandte Psychologie.
  • Marek, Daniell (2022), «Zellenorganisation: mehr Beweglichkeit im Betrieb», in: HR-Developer, Nr. 4/2022, S. 10 –12.
  • Müller, Carolin (2020), «Hierarchiefreie Organisationen», in: zfo, Nr. 01/2020, S. 30–37.
  • Roberts, John (2007), «Management: über die Gestaltung effektiver Organisationen», München: Pearson.

(Dieser Beitrag ist in der Ausgabe Juni 2023 von personalSCHWEIZ erschienen)

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