Experten-Interviews

Personenfreizügigkeit: Die Regeln sind klar

Am 1. Juni 2002 trat das Abkommen über die Personenfreizügigkeit (FZA) Schweiz–EU in Kraft. Mit der Lohn- und Sozialversicherungsexpertin Brigitte Zulauf (Partner und Leiterin Treuhand bei PwC Schweiz) sprechen wir über die Herausforderungen der Personenfreizügigkeit.

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Kevin Hofer

 

Kevin Hofer war Chefredaktor des HR-Magazins personalSCHWEIZ.

Personenfreizügigkeit

personalSCHWEIZ: Frau Zulauf, mit der Umsetzung der Initiative «Gegen Masseneinwanderung» bleibt auch das FZA gültig. Ist es nun nachhaltig gesichert?

Brigitte Zulauf: Da die Politik über das  Freizügigkeitsabkommen entscheidet, kann ich darauf keine endgültige Antwort geben. Es gibt Politiker, die dafür, und solche, die dagegen sind. Zurzeit ist das FZA gesichert. Wie sich das aber politisch künftig entwickelt, ist schwer zu sagen. Aus meiner Sicht ist die jetzige Lösung elegant.

Was ist an der Lösung elegant?

Dass sie gegenüber den ursprünglichen Intentionen nur wenige Auswirkungen hat. Mit dem Inländervorrang light muss eine Branche stark betroffen sein – über 5 Prozent Arbeitslosigkeit –, damit dieser überhaupt zum Zug kommt. Gegenüber einer Vollkontingentierung ist das ein markanter Unterschied. Zwar wird der administrative Aufwand etwas grösser. Aber im Endeffekt ist es lediglich ein Schritt mehr, mit dem man beweisen muss, dass eine Besetzung mit Stellensuchenden nicht möglich ist.

Das FZA ist jetzt seit etwas mehr als 15 Jahren in Kraft. Wie beurteilen Sie diese 15 Jahre aus Arbeitgebersicht? Was die Bewilligungen angeht, um an Fachkräfte zu kommen, war und ist das FZA sicherlich eine Erleichterung für die Unternehmen. Die stufenweise Einführung war politisch auch ein kluger Schachzug und hatte ihre Berechtigung. Gewisse Branchen – beispielsweise IT, Ingenieurwesen und Gesundheitswesen –, die von ausländischen Fachkräften abhängig sind, wären wirtschaftlich ohne das FZA in Schwierigkeiten geraten. Dass wirtschaftlich wichtige Branchen betroffen waren, ist sicherlich mit ein Grund für die nun gefundene Lösung für die Masseneinwanderungsinitiative. Das FZA hat meiner Meinung nach mehr Vorteile als Nachteile, um an Fachkräfte zu kommen. Im Sozialversicherungsbereich gibt es aber einige Knacknüsse, die Unternehmen – vor allem in Grenzregionen – auch heute noch vor Herausforderungen stellen.

Vor welche Herausforderungen stellt die Bewilligungspraxis HR-Verantwortliche?

Bereits nach der Annahme der Masseneinwanderungsinitiative haben wir in einzelnen Kantonen eine Verschärfung bei der Bewilligungspraxis von Drittstaats­angehörigen beobachtet. Mitverantwortlich war hier sicherlich auch die Reduzierung der Kontingente. Bei Bewilligungen wurde und wird von gewissen Ämtern mehr auf das wirtschaftliche Gesamt­interesse geschaut als früher. Beurteilt wird ebenfalls, ob es sich tatsächlich um Spezialisten oder leitende Angestellte handelt. Dabei braucht es heute mehr Argumente. Unternehmen interessiert es vor allem, was es genau braucht, um nachzuweisen, dass auch Arbeitslose bei der Suche berücksichtigt wurden. Die Praxistauglichkeit muss bei der Ausarbeitung der Umsetzung nun im Zentrum stehen.

Gibt es noch weitere Herausforderungen?

HR-Verantwortliche müssen sich noch mehr Gedanken dazu machen, wie sie die richtigen Mitarbeitenden finden resp. entwickeln können. Beispielsweise mit interner Weiterbildung oder mithilfe von Massnahmenpaketen, wie sie beispielsweise der Bund vorsieht. Dazu gehört unter anderen die vermehrte Reintegration von Frauen oder älteren Arbeitnehmenden ins Berufsleben. Hinzu kommt auch das Entsendegesetz, welches nicht unter die Personenfreizügigkeit fällt. Bei diesem bestehen Kontingente. Für Konzerne stellt sich die Frage, ob sie jemanden lokal anstellen sollen, statt ihn zu entsenden. Das hat sozialversicherungsrechtlich Einfluss auf die betroffenen Mitarbeiter.

Was gilt es im Bereich der Sozialversicherungen zu beachten?

Die Sozialversicherungssysteme sind von Land zu Land unterschiedlich. Folglich hat man mit verschiedenen Systemen zu tun. Das FZA definiert, welche Bereiche der sozialen Sicherheit koordiniert werden. Bei sozialversicherungsrechtlichen Entsendungen von bis zu zwei Jahren bleibt die Person beispielsweise im Ursprungsland sozialversichert, wenn die entsprechenden Voraussetzungen erfüllt sind. Dank dem Personenfreizügigkeitsabkommen ist einfacher einzustufen, welche Versicherungen genau im Ursprungsland bleiben. Dies ist bei den übrigen Sozialversicherungsabkommen schwieriger, da die Abdeckung der Versicherungszweige je nach Abkommen variiert. Die sozialversicherungsrechtliche Unterstellung erfolgt gemäss FZA in nur einem Staat. Wo sind Personen den Sozialversicherungen unterstellt? Diese Frage ist einer der Stolpersteine für die Unternehmen.

Wieso?

Nehmen wir als Beispiel eine zu 100 Prozent in der Schweiz angestellte Mitarbeiterin (Schweizerin oder EU-Bürgerin), die in Deutschland wohnt und an zwei Tagen Homeoffice macht. Nach der aktuellen Regelung müssen Personen, die 25 Prozent oder mehr im Wohnstaat arbeiten, auch dort den Sozialversicherungen unterstehen. Der physische Arbeitsort entscheidet. In diesem Fall ist die Mitarbeiterin in Deutschland sozialversichert, und ihr Arbeitgeber muss dies korrekt berücksichtigen. Es dürfen keine Schweizer Sozialversicherungen mehr abgerechnet werden. Zusätzlich gibt es Sonderregelungen z.B. für Beamte etc. Komplexer wird es auch bei Teilzeitmitarbeitenden. Einige grenznahe Unternehmen, die wir beraten, haben Teilzeitmitarbeitende aus dem Ausland. Seit Jahren verbuchen sie auf deren Löhnen die Schweizer Sozialversicherungsabzüge. Sie haben sich nicht erkundigt, ob ihre Teilzeitmitarbeitenden zusätzlich noch im Herkunftsland arbeiten. Tun sie dies – wie vorhin beschrieben, zu 25 Prozent oder mehr –, müssen sie in ihrem Herkunftsland sozialversichert werden. Das ist eine grosse Herausforderung und mit viel Aufwand verbunden. Auch weil die Arbeitsverträge oft nicht darauf ausgerichtet sind.

Was für Stolpersteine gibt es noch?

Im Fall von Lohnfortzahlungen kann es zu hoch komplexen Situationen kommen. Lassen Sie mich das anhand des Beispiels Deutschland aufzeigen. Arbeitgeber in Deutschland müssen während einer bestimmten Zeit die Lohnfortzahlung zu 100 Prozent selber entrichten, bevor die Versicherung einspringt. Je nach Art der Versicherung können die Beträge zur Lohnfortzahlung danach variieren. Unter anderem bestehen Beitragsobergrenzen. Dies erscheint auf den ersten Blick positiv, weil die Beiträge eventuell tiefer sind. Entsprechend sind dann jedoch auch die Leistungen nicht so hoch. Hier spielen also viele Systeme ineinander, die nicht aufeinander abgestimmt sind. Wenn Arbeitgeber diese nicht kennen, kann das zu hohen Kosten führen.

Zudem gibt es Sonderregelungen wie beispielsweise bei den Familienzulagen. Es ist zwar geregelt, wer zuständig ist, aber die Administration und die Koordination über die Grenze sind nicht einfach. Es kann zu Differenzzahlungen über die Grenze kommen. Die Familienzulagen sind zuerst in dem Staat auszurichten, wo das Kind wohnt, wenn es dort einen Anspruch gibt. Die Schweiz entrichtet dann eine Differenz, wenn die Familienzulagen betragsmässig höher sind.

Was kann im schlimmsten Fall passieren, wenn Mitarbeitenden, die eigentlich nicht in der Schweiz sozialversichert sind, die Abzüge hier gemacht werden?

Nehmen wir an, ein Mitarbeiter verunfallt. Angenommen, die Versicherung hier in der Schweiz stellt fest, dass der Betroffene gar nicht hier sozialversichert sein darf. Dann kann es sein, dass die Versicherung keine Leistungen bezahlt. Die Chance ist somit gross, dass der mitverantwortliche Arbeitgeber dafür verantwortlich gemacht wird. Das wird unter Umständen sehr teuer für den Arbeitgeber.

Was hat sich im Bereich der Sozialversicherungen bewährt?

Bewährt hat sich, dass die Regeln klar sind. Im Rentenbereich und bei Berufskrankheiten hat man beispielsweise genau geregelt, welcher Staat zuständig ist. Die Unterstellungsfrage ist jedoch nach wie vor schwierig. Das liegt auch an der Grösse der Schweiz und an der Tatsache, dass der Anteil an Arbeitnehmenden mit grenzüberschreitenden Tätigkeiten resp. mit Wohnsitz im Ausland hoch ist. Sehr positiv in Bezug auf das FZA und die Sozialversicherungen ist Folgendes: Es existiert eine Bestimmung, die besagt, dass man in den Staaten, die Teil des Freizügigkeitsabkommens sind, Anrecht auf Behandlung im Notfall hat. Im Fall eines Unfalls oder einer Krankheit muss man behandelt werden. Die Kosten werden dann von dem zuständigen Versicherungsträger über Verbindungsstellen vergütet

Lesen Sie das komplette Interview in der April-Ausgabe von personalSCHWEIZ. personalSCHWEIZ jetzt abonnieren

Zur Person

Brigitte Zulauf ist seit 2002 Partner bei der PwC AG und leitet schweizweit den Bereich Treuhand. Sie betreut nationale und internationale Kunden insbesondere im Bereich der HR-Compliance und Arbeitgeberrisiken in der Lohnbuchhaltung. Ihr breiter Rucksack erstreckt sich von IT-Implementationsfragestellungen über Prozesse und Verarbeitungsfragestellungen bis zu den komplexesten Fragestellungen zu Steuern, Quellensteuern, Sozialversicherungen und Arbeits-/Vertragsrecht im internationalen Umfeld. Zudem referiert sie an verschiedenen Instituten.

 

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